zehn Jahre sind ein Jahrhundert im Leben eines Frauenzimmers. Ich will es bekennen, daß die Mars mir nicht gefiel, weil sie alt ist. Zu meinem Unglücke saß ich ihr ganz nahe, und glaubte über¬ dies meinem boshaften Vergrößerungs-Glase, das selbst eine Hebe verläumdet. O die Runzeln, diese Särge ohne Deckel! Und das graudämmernde Lä¬ cheln, das mit dem letzten Strahle der untergegan¬ genen Schönheit gemischt ist! Lächeln aber ist die ganze Kunst einer Schauspielerin in diesen modernen Komödien, wo Tugend und Laster, Treue und Ver¬ rath, Liebe und Haß, Kraft und Mattigkeit, zu dem bequemen und leicht verdaulichen Ragout, das man gesellschaftliches Leben nennt, zusammengelächelt sind. Die Schauspielerin, die nicht mehr gut lächeln kann, soll die Medea spielen, die Clytemnestra -- oder die Antigone, aber nicht die junge Frau eines alten Mannes, in diesem reconvalescirenden noch schwachen Jahrhunderte. Ach die Weiber, welchen höchstens der Spiegel sagt, daß sie alt geworden, aber nie das Herz! Und wenn nun die müden alten Züge des Gesichts der Empfindung nicht mehr nachkommen können -- es ist gar zu traurig. Ich hätte der alten Mars gern die Jugend und Schönheit meiner acht¬ zehnjährigen Geliebten auf den Abend geliehen, und hätte mit einer zahnlosen Braut den ganzen Abend gekos't; so gerührt war ich. Die abscheulichen Run¬
IV. 4
zehn Jahre ſind ein Jahrhundert im Leben eines Frauenzimmers. Ich will es bekennen, daß die Mars mir nicht gefiel, weil ſie alt iſt. Zu meinem Unglücke ſaß ich ihr ganz nahe, und glaubte über¬ dies meinem boshaften Vergrößerungs-Glaſe, das ſelbſt eine Hebe verläumdet. O die Runzeln, dieſe Särge ohne Deckel! Und das graudämmernde Lä¬ cheln, das mit dem letzten Strahle der untergegan¬ genen Schönheit gemiſcht iſt! Lächeln aber iſt die ganze Kunſt einer Schauſpielerin in dieſen modernen Komödien, wo Tugend und Laſter, Treue und Ver¬ rath, Liebe und Haß, Kraft und Mattigkeit, zu dem bequemen und leicht verdaulichen Ragout, das man geſellſchaftliches Leben nennt, zuſammengelächelt ſind. Die Schauſpielerin, die nicht mehr gut lächeln kann, ſoll die Medea ſpielen, die Clytemneſtra — oder die Antigone, aber nicht die junge Frau eines alten Mannes, in dieſem reconvalescirenden noch ſchwachen Jahrhunderte. Ach die Weiber, welchen höchſtens der Spiegel ſagt, daß ſie alt geworden, aber nie das Herz! Und wenn nun die müden alten Züge des Geſichts der Empfindung nicht mehr nachkommen können — es iſt gar zu traurig. Ich hätte der alten Mars gern die Jugend und Schönheit meiner acht¬ zehnjährigen Geliebten auf den Abend geliehen, und hätte mit einer zahnloſen Braut den ganzen Abend gekoſ't; ſo gerührt war ich. Die abſcheulichen Run¬
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zehn Jahre ſind ein Jahrhundert im Leben eines
Frauenzimmers. Ich will es bekennen, daß die
Mars mir nicht gefiel, weil ſie alt iſt. Zu meinem
Unglücke ſaß ich ihr ganz nahe, und glaubte über¬
dies meinem boshaften Vergrößerungs-Glaſe, das
ſelbſt eine Hebe verläumdet. O die Runzeln, dieſe
Särge ohne Deckel! Und das graudämmernde Lä¬
cheln, das mit dem letzten Strahle der untergegan¬
genen Schönheit gemiſcht iſt! Lächeln aber iſt die
ganze Kunſt einer Schauſpielerin in dieſen modernen
Komödien, wo Tugend und Laſter, Treue und Ver¬
rath, Liebe und Haß, Kraft und Mattigkeit, zu dem
bequemen und leicht verdaulichen Ragout, das man
geſellſchaftliches Leben nennt, zuſammengelächelt ſind.
Die Schauſpielerin, die nicht mehr gut lächeln kann,
ſoll die Medea ſpielen, die Clytemneſtra — oder die
Antigone, aber nicht die junge Frau eines alten
Mannes, in dieſem reconvalescirenden noch ſchwachen
Jahrhunderte. Ach die Weiber, welchen höchſtens
der Spiegel ſagt, daß ſie alt geworden, aber nie das
Herz! Und wenn nun die müden alten Züge
des Geſichts der Empfindung nicht mehr nachkommen
können — es iſt gar zu traurig. Ich hätte der alten
Mars gern die Jugend und Schönheit meiner acht¬
zehnjährigen Geliebten auf den Abend geliehen, und
hätte mit einer zahnloſen Braut den ganzen Abend
gekoſ't; ſo gerührt war ich. Die abſcheulichen Run¬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/63>, abgerufen am 22.11.2024.
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