Zeit kann kommen, daß man sie bei ihr braucht, und dann ist der überraschende Vorrath sehr angenehm.
Meine Malibran hatte einen starken Husten und sang schlecht. Das verzieh ich ihr auf der Stelle. Aber sie trug ein Kleid von rothem Sam¬ met, das einen reifrockartigen Umfang hatte, und das konnte ich ihr anfänglich nicht verzeihen. Als aber darauf Herr von Berriot erschien, verzieh ich ihr das auch. Es ist das liebenswürdigste Gesicht, das mir je an einem Manne vorgekommen, Er ist bescheiden, sinnig, voll Geist und Gemüth. So ist auch sein körperlicher Anstand und so sein Spiel. Paganini's Humor hat er nicht, vielleicht auch nicht seine Tiefe; aber seine Höhe und eine Harmonie, die Paganini nicht hat. Grazie möchte ich in seinem Spiel nicht nennen, was ein besseres Wort verdiente; denn mit Grazie verbindet man doch immer die Vorstellung einer weiblichen Kraftlosigkeit; doch weiß ich nicht, wie ich es nennen soll. Was mir an Berriot am meisten gefiel, war seine Anspruchlosigkeit sowohl in seinem Vortrage, als in seiner Komposition. Ich habe an andern großen Komponisten und Virtuosen oft bemerkt, daß sie ihrer gelungensten Stellen sich selbst bewußt sind, und wenn sie an diese kommen, gleichsam zur Bewunderung herausfordern. Berriot bleibt sich immer gleich, giebt keinem Theile seines Spieles und seiner Komposition einen Vorzug vor
Zeit kann kommen, daß man ſie bei ihr braucht, und dann iſt der überraſchende Vorrath ſehr angenehm.
Meine Malibran hatte einen ſtarken Huſten und ſang ſchlecht. Das verzieh ich ihr auf der Stelle. Aber ſie trug ein Kleid von rothem Sam¬ met, das einen reifrockartigen Umfang hatte, und das konnte ich ihr anfänglich nicht verzeihen. Als aber darauf Herr von Berriot erſchien, verzieh ich ihr das auch. Es iſt das liebenswürdigſte Geſicht, das mir je an einem Manne vorgekommen, Er iſt beſcheiden, ſinnig, voll Geiſt und Gemüth. So iſt auch ſein körperlicher Anſtand und ſo ſein Spiel. Paganini's Humor hat er nicht, vielleicht auch nicht ſeine Tiefe; aber ſeine Höhe und eine Harmonie, die Paganini nicht hat. Grazie möchte ich in ſeinem Spiel nicht nennen, was ein beſſeres Wort verdiente; denn mit Grazie verbindet man doch immer die Vorſtellung einer weiblichen Kraftloſigkeit; doch weiß ich nicht, wie ich es nennen ſoll. Was mir an Berriot am meiſten gefiel, war ſeine Anſpruchloſigkeit ſowohl in ſeinem Vortrage, als in ſeiner Kompoſition. Ich habe an andern großen Komponiſten und Virtuoſen oft bemerkt, daß ſie ihrer gelungenſten Stellen ſich ſelbſt bewußt ſind, und wenn ſie an dieſe kommen, gleichſam zur Bewunderung herausfordern. Berriot bleibt ſich immer gleich, giebt keinem Theile ſeines Spieles und ſeiner Kompoſition einen Vorzug vor
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Zeit kann kommen, daß man ſie bei ihr braucht, und
dann iſt der überraſchende Vorrath ſehr angenehm.
Meine Malibran hatte einen ſtarken Huſten
und ſang ſchlecht. Das verzieh ich ihr auf der
Stelle. Aber ſie trug ein Kleid von rothem Sam¬
met, das einen reifrockartigen Umfang hatte, und das
konnte ich ihr anfänglich nicht verzeihen. Als aber
darauf Herr von Berriot erſchien, verzieh ich ihr das
auch. Es iſt das liebenswürdigſte Geſicht, das mir
je an einem Manne vorgekommen, Er iſt beſcheiden,
ſinnig, voll Geiſt und Gemüth. So iſt auch ſein
körperlicher Anſtand und ſo ſein Spiel. Paganini's
Humor hat er nicht, vielleicht auch nicht ſeine Tiefe;
aber ſeine Höhe und eine Harmonie, die Paganini
nicht hat. Grazie möchte ich in ſeinem Spiel nicht
nennen, was ein beſſeres Wort verdiente; denn mit
Grazie verbindet man doch immer die Vorſtellung
einer weiblichen Kraftloſigkeit; doch weiß ich nicht,
wie ich es nennen ſoll. Was mir an Berriot am
meiſten gefiel, war ſeine Anſpruchloſigkeit ſowohl in
ſeinem Vortrage, als in ſeiner Kompoſition. Ich
habe an andern großen Komponiſten und Virtuoſen
oft bemerkt, daß ſie ihrer gelungenſten Stellen ſich
ſelbſt bewußt ſind, und wenn ſie an dieſe kommen,
gleichſam zur Bewunderung herausfordern. Berriot
bleibt ſich immer gleich, giebt keinem Theile ſeines
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/60>, abgerufen am 17.07.2024.
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