In dem Hause des Baron Clairville und unter dem Schutze der Tochter, lebte ein 16jähriger Knabe, Namens Felix. Die Grä¬ fin hatte ihn als Findelkind aufgenommen und ihn erzogen. Sie war dem Knaben mit müt¬ terlicher Liebe zugethan, und dieser hing an ihr mit der zärtlichsten Neigung eines Soh¬ nes. An dem Tage, der zu ihrer Verlobung bestimmt war, sehen wir die Gräfin in der heftigsten Gemüthsbewegung. Sie hat den un¬ vermeidlichen Entschluß gefaßt, den Knaben vor Ankunft ihres Verlobten aus dem Hause zu entfernen. Sie ruft Felix herein, drückt ihn mit Schmerz und Liebe an ihre Brust, und kündigt ihm an, er müsse sie verlassen. Der Knabe jammert verzweiflungsvoll. Die Gräfin kann nicht anders -- den Knaben zu beruhigen, ihm die Nothwendigkeit seines har¬ ten Geschicks zu erklären, ihr eigenes Herz zu rechtfertigen, muß sie ihm gestehen, daß sie
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In dem Hauſe des Baron Clairville und unter dem Schutze der Tochter, lebte ein 16jaͤhriger Knabe, Namens Felix. Die Graͤ¬ fin hatte ihn als Findelkind aufgenommen und ihn erzogen. Sie war dem Knaben mit muͤt¬ terlicher Liebe zugethan, und dieſer hing an ihr mit der zaͤrtlichſten Neigung eines Soh¬ nes. An dem Tage, der zu ihrer Verlobung beſtimmt war, ſehen wir die Graͤfin in der heftigſten Gemuͤthsbewegung. Sie hat den un¬ vermeidlichen Entſchluß gefaßt, den Knaben vor Ankunft ihres Verlobten aus dem Hauſe zu entfernen. Sie ruft Felix herein, druͤckt ihn mit Schmerz und Liebe an ihre Bruſt, und kuͤndigt ihm an, er muͤſſe ſie verlaſſen. Der Knabe jammert verzweiflungsvoll. Die Graͤfin kann nicht anders — den Knaben zu beruhigen, ihm die Nothwendigkeit ſeines har¬ ten Geſchicks zu erklaͤren, ihr eigenes Herz zu rechtfertigen, muß ſie ihm geſtehen, daß ſie
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In dem Hauſe des Baron Clairville und
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16jaͤhriger Knabe, Namens Felix. Die Graͤ¬
fin hatte ihn als Findelkind aufgenommen und
ihn erzogen. Sie war dem Knaben mit muͤt¬
terlicher Liebe zugethan, und dieſer hing an
ihr mit der zaͤrtlichſten Neigung eines Soh¬
nes. An dem Tage, der zu ihrer Verlobung
beſtimmt war, ſehen wir die Graͤfin in der
heftigſten Gemuͤthsbewegung. Sie hat den un¬
vermeidlichen Entſchluß gefaßt, den Knaben
vor Ankunft ihres Verlobten aus dem Hauſe
zu entfernen. Sie ruft Felix herein, druͤckt
ihn mit Schmerz und Liebe an ihre Bruſt,
und kuͤndigt ihm an, er muͤſſe ſie verlaſſen.
Der Knabe jammert verzweiflungsvoll. Die
Graͤfin kann nicht anders — den Knaben zu
beruhigen, ihm die Nothwendigkeit ſeines har¬
ten Geſchicks zu erklaͤren, ihr eigenes Herz zu
rechtfertigen, muß ſie ihm geſtehen, daß ſie
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 3. Paris, 1833, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris03_1833/305>, abgerufen am 23.11.2024.
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