-- Ich habe Heine's vierten Band in einem Abende mit der freudigsten Ungeduld durchgelesen. Meine Augen, die Windspiele meines Geistes, liefen weit voraus und waren schon am Ende des Buches, als ihr langsamer Herr erst in der Mitte war. Das ist der wahre Dichter, der Günstling der Natur, der alles kennt, was seine Gebieterin dem Tage Häßli¬ ches, was sie ihm Schönes verbirgt. Auch ist Heine, als Dichter, ein gründlicher Geschichtsforscher. Doch verstecken Sie meinen Brief in den dunkelsten Schrank; denn läse ein historischer Professor, was ich so eben geschrieben, er ließe mich todt schlagen, auf seiner eigenen oder einer andern Universität -- ob zwar die deutschen Heeren keine Freunde vom Todtschlagen sind, weder vom aktiven noch vom passiven, wie man neulich in Göttingen gesehen. Diesmal hat der Stoff Heine ernster gemacht, als er sonst den Stoff, und wenn er auch noch immer mit seinen Waffen spielt, so weiß er doch auch mit Blumen zu fechten. Das Buch hat mich gelabt wie das Murmeln einer Quelle in der Wüste, es hat mich entzückt wie eine Menschenstimme von oben, wie ein Lichtstrahl den le¬ bendig Begrabenen entzückt. Das Grab ist nicht dunkler, die Wüste ist nicht dürrer als Deutschland. Was ein seelenloser Wald, was ein todter Felsen vermag: uns das eigne Wort zurückzurufen -- nicht einmal dazu kann das blöde Volk dienen. Kann man
— Ich habe Heine's vierten Band in einem Abende mit der freudigſten Ungeduld durchgeleſen. Meine Augen, die Windſpiele meines Geiſtes, liefen weit voraus und waren ſchon am Ende des Buches, als ihr langſamer Herr erſt in der Mitte war. Das iſt der wahre Dichter, der Günſtling der Natur, der alles kennt, was ſeine Gebieterin dem Tage Häßli¬ ches, was ſie ihm Schönes verbirgt. Auch iſt Heine, als Dichter, ein gründlicher Geſchichtsforſcher. Doch verſtecken Sie meinen Brief in den dunkelſten Schrank; denn läſe ein hiſtoriſcher Profeſſor, was ich ſo eben geſchrieben, er ließe mich todt ſchlagen, auf ſeiner eigenen oder einer andern Univerſität — ob zwar die deutſchen Heeren keine Freunde vom Todtſchlagen ſind, weder vom aktiven noch vom paſſiven, wie man neulich in Göttingen geſehen. Diesmal hat der Stoff Heine ernſter gemacht, als er ſonſt den Stoff, und wenn er auch noch immer mit ſeinen Waffen ſpielt, ſo weiß er doch auch mit Blumen zu fechten. Das Buch hat mich gelabt wie das Murmeln einer Quelle in der Wüſte, es hat mich entzückt wie eine Menſchenſtimme von oben, wie ein Lichtſtrahl den le¬ bendig Begrabenen entzückt. Das Grab iſt nicht dunkler, die Wüſte iſt nicht dürrer als Deutſchland. Was ein ſeelenloſer Wald, was ein todter Felſen vermag: uns das eigne Wort zurückzurufen — nicht einmal dazu kann das blöde Volk dienen. Kann man
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— Ich habe Heine's vierten Band in einem
Abende mit der freudigſten Ungeduld durchgeleſen.
Meine Augen, die Windſpiele meines Geiſtes, liefen
weit voraus und waren ſchon am Ende des Buches,
als ihr langſamer Herr erſt in der Mitte war. Das
iſt der wahre Dichter, der Günſtling der Natur, der
alles kennt, was ſeine Gebieterin dem Tage Häßli¬
ches, was ſie ihm Schönes verbirgt. Auch iſt Heine,
als Dichter, ein gründlicher Geſchichtsforſcher. Doch
verſtecken Sie meinen Brief in den dunkelſten Schrank;
denn läſe ein hiſtoriſcher Profeſſor, was ich ſo eben
geſchrieben, er ließe mich todt ſchlagen, auf ſeiner
eigenen oder einer andern Univerſität — ob zwar die
deutſchen Heeren keine Freunde vom Todtſchlagen
ſind, weder vom aktiven noch vom paſſiven, wie man
neulich in Göttingen geſehen. Diesmal hat der
Stoff Heine ernſter gemacht, als er ſonſt den Stoff,
und wenn er auch noch immer mit ſeinen Waffen
ſpielt, ſo weiß er doch auch mit Blumen zu fechten.
Das Buch hat mich gelabt wie das Murmeln einer
Quelle in der Wüſte, es hat mich entzückt wie eine
Menſchenſtimme von oben, wie ein Lichtſtrahl den le¬
bendig Begrabenen entzückt. Das Grab iſt nicht
dunkler, die Wüſte iſt nicht dürrer als Deutſchland.
Was ein ſeelenloſer Wald, was ein todter Felſen
vermag: uns das eigne Wort zurückzurufen — nicht
einmal dazu kann das blöde Volk dienen. Kann man
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/60>, abgerufen am 16.07.2024.
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