Vorgestern gegen Mittag kam ich nach Chalons. Ich wollte meinen Strasburger Wagen, den ich einst¬ weilen nur bis dahin gedingt hatte, nun weiter bis Paris miethen. Aber der Kutscher hatte keine Lust dazu, die Wege wären zu schlecht, oder was ihn sonst abhielt. Ich schickte nach einem andern Mieth¬ kutscher. Jetzt denken Sie sich die gräuliche Sta¬ tistik: In Chalons, einer Stadt von 12,000 Ein¬ wohnern, gibt es nur eine einzige Miethkutsche, und für diese wurde für die Reise nach Paris, das nur zwanzig Meilen entfernt ist, 200 Franken gefordert! Da dieses viel mehr als die Reise mit Postpferden beträgt, entschloß ich mich zu Letzterem. Da hatte ich mich wieder verrechnet. In Deutschland findet der Reisende auf jeder Post Kutschen, die ihn von Station zu Station führen. Hier aber hat die Post zu diesem Gebrauche nur zweiräderige bedeckte Wa¬ gen, die nicht in Federn hängen, uns leicht die Seele aus dem Körper schleudern, und nicht einmal Platz haben, einen Koffer aufzupacken. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit der Diligence zu reisen, die eine halbe Stunde vor meiner Ankunft in Chalons abgegangen war, und die erst den andern Mittag wiederkehrte. Vier und zwanzig Stunden sollte ich warten! Ich war an diesem Tage ganz gewiß der verdrießlichste Mensch in ganz Europa, und war schwach genug zu überlegen, was besser sey, Pre߬
Vorgeſtern gegen Mittag kam ich nach Chalons. Ich wollte meinen Strasburger Wagen, den ich einſt¬ weilen nur bis dahin gedingt hatte, nun weiter bis Paris miethen. Aber der Kutſcher hatte keine Luſt dazu, die Wege wären zu ſchlecht, oder was ihn ſonſt abhielt. Ich ſchickte nach einem andern Mieth¬ kutſcher. Jetzt denken Sie ſich die gräuliche Sta¬ tiſtik: In Chalons, einer Stadt von 12,000 Ein¬ wohnern, gibt es nur eine einzige Miethkutſche, und für dieſe wurde für die Reiſe nach Paris, das nur zwanzig Meilen entfernt iſt, 200 Franken gefordert! Da dieſes viel mehr als die Reiſe mit Poſtpferden beträgt, entſchloß ich mich zu Letzterem. Da hatte ich mich wieder verrechnet. In Deutſchland findet der Reiſende auf jeder Poſt Kutſchen, die ihn von Station zu Station führen. Hier aber hat die Poſt zu dieſem Gebrauche nur zweiräderige bedeckte Wa¬ gen, die nicht in Federn hängen, uns leicht die Seele aus dem Körper ſchleudern, und nicht einmal Platz haben, einen Koffer aufzupacken. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit der Diligence zu reiſen, die eine halbe Stunde vor meiner Ankunft in Chalons abgegangen war, und die erſt den andern Mittag wiederkehrte. Vier und zwanzig Stunden ſollte ich warten! Ich war an dieſem Tage ganz gewiß der verdrießlichſte Menſch in ganz Europa, und war ſchwach genug zu überlegen, was beſſer ſey, Pre߬
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Vorgeſtern gegen Mittag kam ich nach Chalons.
Ich wollte meinen Strasburger Wagen, den ich einſt¬
weilen nur bis dahin gedingt hatte, nun weiter bis
Paris miethen. Aber der Kutſcher hatte keine Luſt
dazu, die Wege wären zu ſchlecht, oder was ihn
ſonſt abhielt. Ich ſchickte nach einem andern Mieth¬
kutſcher. Jetzt denken Sie ſich die gräuliche Sta¬
tiſtik: In Chalons, einer Stadt von 12,000 Ein¬
wohnern, gibt es nur eine einzige Miethkutſche, und
für dieſe wurde für die Reiſe nach Paris, das nur
zwanzig Meilen entfernt iſt, 200 Franken gefordert!
Da dieſes viel mehr als die Reiſe mit Poſtpferden
beträgt, entſchloß ich mich zu Letzterem. Da hatte
ich mich wieder verrechnet. In Deutſchland findet
der Reiſende auf jeder Poſt Kutſchen, die ihn von
Station zu Station führen. Hier aber hat die Poſt
zu dieſem Gebrauche nur zweiräderige bedeckte Wa¬
gen, die nicht in Federn hängen, uns leicht die Seele
aus dem Körper ſchleudern, und nicht einmal Platz
haben, einen Koffer aufzupacken. So blieb mir nichts
anderes übrig, als mit der Diligence zu reiſen, die
eine halbe Stunde vor meiner Ankunft in Chalons
abgegangen war, und die erſt den andern Mittag
wiederkehrte. Vier und zwanzig Stunden ſollte ich
warten! Ich war an dieſem Tage ganz gewiß der
verdrießlichſte Menſch in ganz Europa, und war
ſchwach genug zu überlegen, was beſſer ſey, Pre߬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/32>, abgerufen am 02.05.2024.
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