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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

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Armen der Natur, und kein Freund kam zu meiner
Hülfe .... Wer mir damals gesagt hätte: heute
über das Jahr bist du um diese Stunde in Vitry-
sür-Marne, froh und gesund und wirst dort schlafen
und nicht unter der Erde -- ich hätte ihn ausge¬
lacht inmitten meiner Schmerzen. Und wer am
nehmlichen Tage dem Könige von Frankreich gesagt
hätte: heute übers Jahr bist du nicht König mehr,
und schläfst in England? .. Es ist doch schön,
kein König sein! Daran will ich künftig denken, so
oft ich leide. Armer Karl! Unglücklicher Greis! die
Menschen -- nein, unbarmherzig sind sie nicht, aber
sie sind unwissende Thoren. Sie begreifen gar nicht,
was das heißt: König seyn; sie begreifen nicht was
das heißt, auf schwachen menschlichen Schultern den
Zorn und die Rache eines Gottes tragen; sie be¬
greifen nicht, was es heißt, einem einzigen Herzen,
einer einzigen Seele die Sünden eines ganzen Volkes
aufladen! Denn warum haben die Menschen Könige,
als weil sie Sünder sind? Ist das Fürstenthum
etwas Anderes als ein künstliches Geschwür, welches
die heilbedächtige Vorsehung, den Völkern zuzieht,
daß sie nicht verderben an ihren bösen Säften, daß
ihre giftigen Leidenschaften alle nach außen fliehen
und sich im Geschwür sammeln? Und wenn es auf¬
springt endlich -- wer hat es strotzend gemacht?
Nicht schonen soll man verbrecherische Könige, aber

Armen der Natur, und kein Freund kam zu meiner
Hülfe .... Wer mir damals geſagt hätte: heute
über das Jahr biſt du um dieſe Stunde in Vitry-
ſür-Marne, froh und geſund und wirſt dort ſchlafen
und nicht unter der Erde — ich hätte ihn ausge¬
lacht inmitten meiner Schmerzen. Und wer am
nehmlichen Tage dem Könige von Frankreich geſagt
hätte: heute übers Jahr biſt du nicht König mehr,
und ſchläfſt in England? .. Es iſt doch ſchön,
kein König ſein! Daran will ich künftig denken, ſo
oft ich leide. Armer Karl! Unglücklicher Greis! die
Menſchen — nein, unbarmherzig ſind ſie nicht, aber
ſie ſind unwiſſende Thoren. Sie begreifen gar nicht,
was das heißt: König ſeyn; ſie begreifen nicht was
das heißt, auf ſchwachen menſchlichen Schultern den
Zorn und die Rache eines Gottes tragen; ſie be¬
greifen nicht, was es heißt, einem einzigen Herzen,
einer einzigen Seele die Sünden eines ganzen Volkes
aufladen! Denn warum haben die Menſchen Könige,
als weil ſie Sünder ſind? Iſt das Fürſtenthum
etwas Anderes als ein künſtliches Geſchwür, welches
die heilbedächtige Vorſehung, den Völkern zuzieht,
daß ſie nicht verderben an ihren böſen Säften, daß
ihre giftigen Leidenſchaften alle nach außen fliehen
und ſich im Geſchwür ſammeln? Und wenn es auf¬
ſpringt endlich — wer hat es ſtrotzend gemacht?
Nicht ſchonen ſoll man verbrecheriſche Könige, aber

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[10/0024] Armen der Natur, und kein Freund kam zu meiner Hülfe .... Wer mir damals geſagt hätte: heute über das Jahr biſt du um dieſe Stunde in Vitry- ſür-Marne, froh und geſund und wirſt dort ſchlafen und nicht unter der Erde — ich hätte ihn ausge¬ lacht inmitten meiner Schmerzen. Und wer am nehmlichen Tage dem Könige von Frankreich geſagt hätte: heute übers Jahr biſt du nicht König mehr, und ſchläfſt in England? .. Es iſt doch ſchön, kein König ſein! Daran will ich künftig denken, ſo oft ich leide. Armer Karl! Unglücklicher Greis! die Menſchen — nein, unbarmherzig ſind ſie nicht, aber ſie ſind unwiſſende Thoren. Sie begreifen gar nicht, was das heißt: König ſeyn; ſie begreifen nicht was das heißt, auf ſchwachen menſchlichen Schultern den Zorn und die Rache eines Gottes tragen; ſie be¬ greifen nicht, was es heißt, einem einzigen Herzen, einer einzigen Seele die Sünden eines ganzen Volkes aufladen! Denn warum haben die Menſchen Könige, als weil ſie Sünder ſind? Iſt das Fürſtenthum etwas Anderes als ein künſtliches Geſchwür, welches die heilbedächtige Vorſehung, den Völkern zuzieht, daß ſie nicht verderben an ihren böſen Säften, daß ihre giftigen Leidenſchaften alle nach außen fliehen und ſich im Geſchwür ſammeln? Und wenn es auf¬ ſpringt endlich — wer hat es ſtrotzend gemacht? Nicht ſchonen ſoll man verbrecheriſche Könige, aber

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/24>, abgerufen am 02.05.2024.