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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

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besonnener wird und sich mäßigen lernt, und lernt
Gründe annehmen Ich habe den Hugo etwas we¬
niges gesprochen, bin aber gar nicht begierig ihn
näher zu kennen; denn es ist nicht nöthig und nicht
möglich. Dem geistreichsten französischen Schrift¬
steller liegt die ganze Seele vorne im Munde; sie
hat kein geheimes Kabinet, keine Hinterthüre, wozu
man blos nach genauerer Bekanntschaft dringt. Hugo
ist mündlich nicht anders wie die Andern. Das ist
nicht wie bei uns. Ein deutscher Dichter ist ein
frommer treuer Knecht der Poesie, und er trägt ihre
Farbe. Aber ein französischer Dichter ist Herr der
Poesie, sie trägt seine Livree und gehet hinter ihm,
wo er öffentlich erscheint.

Sie fragen, ob Frankreich den Polen beistehen
wird? wahrscheinlich geschiehet es. Frankreich wäre
ja ganz von Sinnen, wenn es diese Gelegenheit
Rußland zu schwächen, die nicht zum zweitenmale
wiederkehrte, ungebraucht vorüber gehen ließe.
Würden die Polen besiegt, dann kehrte sich Rußland
gegen Frankreich. England hat gleiches Interesse
und ich hoffe, sie vereinigen sich, den Polen zu hel¬
fen. Sie können zwar Rußland nicht zu Lande,
aber doch zur See angreifen, und können es beschäf¬
tigen, indem sie durch Geld und Intriguen Unruhen
auch in den andern russischen Provinzen anzetteln.
Es ist zwar gegründet, daß die polnische Revolution

beſonnener wird und ſich mäßigen lernt, und lernt
Gründe annehmen Ich habe den Hugo etwas we¬
niges geſprochen, bin aber gar nicht begierig ihn
näher zu kennen; denn es iſt nicht nöthig und nicht
möglich. Dem geiſtreichſten franzöſiſchen Schrift¬
ſteller liegt die ganze Seele vorne im Munde; ſie
hat kein geheimes Kabinet, keine Hinterthüre, wozu
man blos nach genauerer Bekanntſchaft dringt. Hugo
iſt mündlich nicht anders wie die Andern. Das iſt
nicht wie bei uns. Ein deutſcher Dichter iſt ein
frommer treuer Knecht der Poeſie, und er trägt ihre
Farbe. Aber ein franzöſiſcher Dichter iſt Herr der
Poeſie, ſie trägt ſeine Livree und gehet hinter ihm,
wo er öffentlich erſcheint.

Sie fragen, ob Frankreich den Polen beiſtehen
wird? wahrſcheinlich geſchiehet es. Frankreich wäre
ja ganz von Sinnen, wenn es dieſe Gelegenheit
Rußland zu ſchwächen, die nicht zum zweitenmale
wiederkehrte, ungebraucht vorüber gehen ließe.
Würden die Polen beſiegt, dann kehrte ſich Rußland
gegen Frankreich. England hat gleiches Intereſſe
und ich hoffe, ſie vereinigen ſich, den Polen zu hel¬
fen. Sie können zwar Rußland nicht zu Lande,
aber doch zur See angreifen, und können es beſchäf¬
tigen, indem ſie durch Geld und Intriguen Unruhen
auch in den andern ruſſiſchen Provinzen anzetteln.
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[176/0190] beſonnener wird und ſich mäßigen lernt, und lernt Gründe annehmen Ich habe den Hugo etwas we¬ niges geſprochen, bin aber gar nicht begierig ihn näher zu kennen; denn es iſt nicht nöthig und nicht möglich. Dem geiſtreichſten franzöſiſchen Schrift¬ ſteller liegt die ganze Seele vorne im Munde; ſie hat kein geheimes Kabinet, keine Hinterthüre, wozu man blos nach genauerer Bekanntſchaft dringt. Hugo iſt mündlich nicht anders wie die Andern. Das iſt nicht wie bei uns. Ein deutſcher Dichter iſt ein frommer treuer Knecht der Poeſie, und er trägt ihre Farbe. Aber ein franzöſiſcher Dichter iſt Herr der Poeſie, ſie trägt ſeine Livree und gehet hinter ihm, wo er öffentlich erſcheint. Sie fragen, ob Frankreich den Polen beiſtehen wird? wahrſcheinlich geſchiehet es. Frankreich wäre ja ganz von Sinnen, wenn es dieſe Gelegenheit Rußland zu ſchwächen, die nicht zum zweitenmale wiederkehrte, ungebraucht vorüber gehen ließe. Würden die Polen beſiegt, dann kehrte ſich Rußland gegen Frankreich. England hat gleiches Intereſſe und ich hoffe, ſie vereinigen ſich, den Polen zu hel¬ fen. Sie können zwar Rußland nicht zu Lande, aber doch zur See angreifen, und können es beſchäf¬ tigen, indem ſie durch Geld und Intriguen Unruhen auch in den andern ruſſiſchen Provinzen anzetteln. Es iſt zwar gegründet, daß die polniſche Revolution

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/190>, abgerufen am 17.05.2024.