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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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der Mischliebe als die letzten, irgendwie erhaltenen Reste (wir
reden davon noch) des alten Leibespelzes ansiehst, wie er für
eine Übergangszeit auch noch unter der ersten Bekleidung fort¬
bestand, -- so würdest du in dieser zähen Filzlaus, die gerade
da heute mit Vorliebe herbergt, einen letzten Mohikaner noch
haben des Spukgesindels, das weiland den Menschen zwang,
aus seinem eignen Fell zu fahren, weil er's nicht mehr aus¬
halten konnte. Wie die letzten Schnabeltiere, Kiwis, Brücken¬
eidechsen und Riesenschildkröten der Urzeit heute auf Inseln im
Ozean sich zurückgezogen haben, nachdem ihnen sonst überall
der Boden unter den Füßen weggesunken ist, so bewohnt diese
Laus in den Haarinselchen der Achseln und Geschlechtsteile
heute ebenfalls nur mehr letzte Klippen gleichsam im übrigens
allenthalben offenen Meer deiner Nacktheit. Und es mag solche
historische Betrachtung sogar einen gewissen Reiz einem Tier¬
lein verleihen, das sonst das eigentümliche, ja fast einzigartige
Schicksal gehabt hat, in der menschlichen Auffassung eine Moral-
Beleuchtung zu erfahren, die ihm die rote Marke des Unsitt¬
lichen aufprägte.

Unter diesen Umständen mußte also jenes Abscheuern, das
den eigenen Haarstand zunächst wenigstens etwas einschränkte,
von Stund an bewußt als Gewinn begrüßt werden. Die Nackt¬
heit tauchte auf als erwünschte Nützlichkeit, je mehr, je besser.

Mit dem schärfsten Wort: Nacktheit wurde Ideal.

Und da hätten wir also in erster Andeutung jetzt wirklich,
was wir oben im Gedankennetz so empfindlich vermißten: eine
praktische Nützlichkeit zunehmender Nacktheit zunächst einmal als
solche unabhängig noch von allen ästhetischen und erotischen
Dingen. Eine Wunsch-Nacktheit aus reinem Lebenskampf-
Vorteil!

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der Miſchliebe als die letzten, irgendwie erhaltenen Reſte (wir
reden davon noch) des alten Leibespelzes anſiehſt, wie er für
eine Übergangszeit auch noch unter der erſten Bekleidung fort¬
beſtand, — ſo würdeſt du in dieſer zähen Filzlaus, die gerade
da heute mit Vorliebe herbergt, einen letzten Mohikaner noch
haben des Spukgeſindels, das weiland den Menſchen zwang,
aus ſeinem eignen Fell zu fahren, weil er's nicht mehr aus¬
halten konnte. Wie die letzten Schnabeltiere, Kiwis, Brücken¬
eidechſen und Rieſenſchildkröten der Urzeit heute auf Inſeln im
Ozean ſich zurückgezogen haben, nachdem ihnen ſonſt überall
der Boden unter den Füßen weggeſunken iſt, ſo bewohnt dieſe
Laus in den Haarinſelchen der Achſeln und Geſchlechtsteile
heute ebenfalls nur mehr letzte Klippen gleichſam im übrigens
allenthalben offenen Meer deiner Nacktheit. Und es mag ſolche
hiſtoriſche Betrachtung ſogar einen gewiſſen Reiz einem Tier¬
lein verleihen, das ſonſt das eigentümliche, ja faſt einzigartige
Schickſal gehabt hat, in der menſchlichen Auffaſſung eine Moral-
Beleuchtung zu erfahren, die ihm die rote Marke des Unſitt¬
lichen aufprägte.

Unter dieſen Umſtänden mußte alſo jenes Abſcheuern, das
den eigenen Haarſtand zunächſt wenigſtens etwas einſchränkte,
von Stund an bewußt als Gewinn begrüßt werden. Die Nackt¬
heit tauchte auf als erwünſchte Nützlichkeit, je mehr, je beſſer.

Mit dem ſchärfſten Wort: Nacktheit wurde Ideal.

Und da hätten wir alſo in erſter Andeutung jetzt wirklich,
was wir oben im Gedankennetz ſo empfindlich vermißten: eine
praktiſche Nützlichkeit zunehmender Nacktheit zunächſt einmal als
ſolche unabhängig noch von allen äſthetiſchen und erotiſchen
Dingen. Eine Wunſch-Nacktheit aus reinem Lebenskampf-
Vorteil!

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[58/0072] der Miſchliebe als die letzten, irgendwie erhaltenen Reſte (wir reden davon noch) des alten Leibespelzes anſiehſt, wie er für eine Übergangszeit auch noch unter der erſten Bekleidung fort¬ beſtand, — ſo würdeſt du in dieſer zähen Filzlaus, die gerade da heute mit Vorliebe herbergt, einen letzten Mohikaner noch haben des Spukgeſindels, das weiland den Menſchen zwang, aus ſeinem eignen Fell zu fahren, weil er's nicht mehr aus¬ halten konnte. Wie die letzten Schnabeltiere, Kiwis, Brücken¬ eidechſen und Rieſenſchildkröten der Urzeit heute auf Inſeln im Ozean ſich zurückgezogen haben, nachdem ihnen ſonſt überall der Boden unter den Füßen weggeſunken iſt, ſo bewohnt dieſe Laus in den Haarinſelchen der Achſeln und Geſchlechtsteile heute ebenfalls nur mehr letzte Klippen gleichſam im übrigens allenthalben offenen Meer deiner Nacktheit. Und es mag ſolche hiſtoriſche Betrachtung ſogar einen gewiſſen Reiz einem Tier¬ lein verleihen, das ſonſt das eigentümliche, ja faſt einzigartige Schickſal gehabt hat, in der menſchlichen Auffaſſung eine Moral- Beleuchtung zu erfahren, die ihm die rote Marke des Unſitt¬ lichen aufprägte. Unter dieſen Umſtänden mußte alſo jenes Abſcheuern, das den eigenen Haarſtand zunächſt wenigſtens etwas einſchränkte, von Stund an bewußt als Gewinn begrüßt werden. Die Nackt¬ heit tauchte auf als erwünſchte Nützlichkeit, je mehr, je beſſer. Mit dem ſchärfſten Wort: Nacktheit wurde Ideal. Und da hätten wir alſo in erſter Andeutung jetzt wirklich, was wir oben im Gedankennetz ſo empfindlich vermißten: eine praktiſche Nützlichkeit zunehmender Nacktheit zunächſt einmal als ſolche unabhängig noch von allen äſthetiſchen und erotiſchen Dingen. Eine Wunſch-Nacktheit aus reinem Lebenskampf- Vorteil! [Abbildung]

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/72>, abgerufen am 18.05.2024.