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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Organ und Werkzeug in gleicher Richtung sich begegnen, das
Organ sehr bald zurücktreten. Der Mensch, der eine Bären¬
kinnbacke mit dem großen Eckzahn als Schlagwaffe benutzte,
brauchte selber keine großen Eckzähne mehr nach Gorilla-Art
im eigenen Munde: das Material konnte von der Natur an
ihm gespart, und der Raum dem Gehirnteil des Schädels, also
dem Zentralbureau jener Werkzeugschaffung, zugeteilt werden.

In das Innengewebe dieser Wandlungen und Ersetzungen
sehen wir ja noch nicht sehr deutlich hinein. Aber so viel ist
allgemein wahrscheinlich, daß vom Augenblick der künstlichen
Bekleidung an eine natürliche Linie gegeben war, die mindestens
zu einer Verkümmerung des echten Körperpelzes hinlenken
konnte.

Das Leibeshaar mußte zunächst an den Schultern und am
Rücken durch den Druck der aufliegenden Überkleidung immer
und immer wieder bei jedem Individuum abgescheuert werden.
Nun ist freilich in der heutigen Forschung auch das noch ein un¬
geschlichteter Streit, ob derartige mechanische Außenwirkungen,
über viele Generationen fortgesetzt, direkt und allein dazu führen
können, daß endlich bei den neugeborenen Kindern bereits ein Er¬
folg sichtbar wird, -- also in diesem Falle so, daß endlich das
Rücken- und Schulterhaar schon von Geburt an immer schwächer
und "abgeschabter" aufgetreten wäre. Auf alle Fälle aber
war dieses Abscheuern, auch wenn es lange Zeit hindurch nur
individuell immer wieder sich nach längerem Kleidertragen ein¬
stellte, ein Vorteil für den Besitzer aus einem ganz bestimmten
Grunde, der wieder im Wesen des Begriffes Werkzeug steckt.

Wo immer Werkzeug und Organ in Vergleichung kommen,
da hat das Werkzeug einen geradezu ungeheuren Vorteil. Das
Organ ist unlösbar angewachsen. Das Werkzeug dagegen läßt
sich nach Gebrauch ablegen. Die Kralle am Finger und den
Beißzahn im Maul muß ich ewig mit mir herumschleppen, auch
wo nach Kratzen und Beißen nicht der geringste Bedarf ist.
Die Mistgabel oder das Beil kann ich heute zu meiner Ver¬

Organ und Werkzeug in gleicher Richtung ſich begegnen, das
Organ ſehr bald zurücktreten. Der Menſch, der eine Bären¬
kinnbacke mit dem großen Eckzahn als Schlagwaffe benutzte,
brauchte ſelber keine großen Eckzähne mehr nach Gorilla-Art
im eigenen Munde: das Material konnte von der Natur an
ihm geſpart, und der Raum dem Gehirnteil des Schädels, alſo
dem Zentralbureau jener Werkzeugſchaffung, zugeteilt werden.

In das Innengewebe dieſer Wandlungen und Erſetzungen
ſehen wir ja noch nicht ſehr deutlich hinein. Aber ſo viel iſt
allgemein wahrſcheinlich, daß vom Augenblick der künſtlichen
Bekleidung an eine natürliche Linie gegeben war, die mindeſtens
zu einer Verkümmerung des echten Körperpelzes hinlenken
konnte.

Das Leibeshaar mußte zunächſt an den Schultern und am
Rücken durch den Druck der aufliegenden Überkleidung immer
und immer wieder bei jedem Individuum abgeſcheuert werden.
Nun iſt freilich in der heutigen Forſchung auch das noch ein un¬
geſchlichteter Streit, ob derartige mechaniſche Außenwirkungen,
über viele Generationen fortgeſetzt, direkt und allein dazu führen
können, daß endlich bei den neugeborenen Kindern bereits ein Er¬
folg ſichtbar wird, — alſo in dieſem Falle ſo, daß endlich das
Rücken- und Schulterhaar ſchon von Geburt an immer ſchwächer
und „abgeſchabter“ aufgetreten wäre. Auf alle Fälle aber
war dieſes Abſcheuern, auch wenn es lange Zeit hindurch nur
individuell immer wieder ſich nach längerem Kleidertragen ein¬
ſtellte, ein Vorteil für den Beſitzer aus einem ganz beſtimmten
Grunde, der wieder im Weſen des Begriffes Werkzeug ſteckt.

Wo immer Werkzeug und Organ in Vergleichung kommen,
da hat das Werkzeug einen geradezu ungeheuren Vorteil. Das
Organ iſt unlösbar angewachſen. Das Werkzeug dagegen läßt
ſich nach Gebrauch ablegen. Die Kralle am Finger und den
Beißzahn im Maul muß ich ewig mit mir herumſchleppen, auch
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[55/0069] Organ und Werkzeug in gleicher Richtung ſich begegnen, das Organ ſehr bald zurücktreten. Der Menſch, der eine Bären¬ kinnbacke mit dem großen Eckzahn als Schlagwaffe benutzte, brauchte ſelber keine großen Eckzähne mehr nach Gorilla-Art im eigenen Munde: das Material konnte von der Natur an ihm geſpart, und der Raum dem Gehirnteil des Schädels, alſo dem Zentralbureau jener Werkzeugſchaffung, zugeteilt werden. In das Innengewebe dieſer Wandlungen und Erſetzungen ſehen wir ja noch nicht ſehr deutlich hinein. Aber ſo viel iſt allgemein wahrſcheinlich, daß vom Augenblick der künſtlichen Bekleidung an eine natürliche Linie gegeben war, die mindeſtens zu einer Verkümmerung des echten Körperpelzes hinlenken konnte. Das Leibeshaar mußte zunächſt an den Schultern und am Rücken durch den Druck der aufliegenden Überkleidung immer und immer wieder bei jedem Individuum abgeſcheuert werden. Nun iſt freilich in der heutigen Forſchung auch das noch ein un¬ geſchlichteter Streit, ob derartige mechaniſche Außenwirkungen, über viele Generationen fortgeſetzt, direkt und allein dazu führen können, daß endlich bei den neugeborenen Kindern bereits ein Er¬ folg ſichtbar wird, — alſo in dieſem Falle ſo, daß endlich das Rücken- und Schulterhaar ſchon von Geburt an immer ſchwächer und „abgeſchabter“ aufgetreten wäre. Auf alle Fälle aber war dieſes Abſcheuern, auch wenn es lange Zeit hindurch nur individuell immer wieder ſich nach längerem Kleidertragen ein¬ ſtellte, ein Vorteil für den Beſitzer aus einem ganz beſtimmten Grunde, der wieder im Weſen des Begriffes Werkzeug ſteckt. Wo immer Werkzeug und Organ in Vergleichung kommen, da hat das Werkzeug einen geradezu ungeheuren Vorteil. Das Organ iſt unlösbar angewachſen. Das Werkzeug dagegen läßt ſich nach Gebrauch ablegen. Die Kralle am Finger und den Beißzahn im Maul muß ich ewig mit mir herumſchleppen, auch wo nach Kratzen und Beißen nicht der geringſte Bedarf iſt. Die Miſtgabel oder das Beil kann ich heute zu meiner Ver¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/69>, abgerufen am 24.11.2024.