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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Vor Jahren war's, an einem unvergeßlichen Wandertag.
Wir waren von Zürich aus, immer zu Fuß, durch die Voralpen
gewandert, Julius Hart, seine liebe Frau und ich. Im Nebel
endlich herauf auf den Furka-Paß. Dann eine Abendstunde
von unsagbarer Reine des Himmels -- und gerade jetzt mit
dem vollen Blick auf die Eissphinx der Hochgebirgswelt. Da
lag unter dem sogenannten Känzli greifbar nahe der Rhone¬
gletscher. Eine Eisscholle, und von dieser Scholle perlt sachte
ein Tropfen und aus diesem Tropfen wird ein Weltstrom, der
unglaublich weit hinter der Erdkrümmung des Horizontes dort
in's himmelblaue Südmeer fällt. Diese Eisscholle lag da in
ihrer ganzen heiligen Erhabenheit. Unter unserm Fuß um
einen nassen Schneefleck ein roter Kranz winziger kriechender
Rhododendron-Blüten. Dann ein kurzer Abstieg zermürbten
Gesteins. Und nun groß, weiß, nackt, wie ein ungeheurer er¬
starrter Leib die glatte Fläche des Gletschers, ganz ohne dunkle
Schuttstreifen. Hinten über dem Anfang nur ein paar kurze
Bergzacken, der Gletscher ganz herrschend, ohne besonderen Berg,
der ihn entließ. Nur drüben die Seitenwand, die er in alten,
stolzeren Tagen noch faßte, von ihm blank poliert. Nach links
ging dann der Eisstrom in königlicher Biegung abwärts, erst
ganz rein in der Marmorlinie, bis er tiefer zerriß, sich spaltete
wie zu einem grandiosen Trümmerfeld spitzer grüner Glas¬


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Vor Jahren war's, an einem unvergeßlichen Wandertag.
Wir waren von Zürich aus, immer zu Fuß, durch die Voralpen
gewandert, Julius Hart, ſeine liebe Frau und ich. Im Nebel
endlich herauf auf den Furka-Paß. Dann eine Abendſtunde
von unſagbarer Reine des Himmels — und gerade jetzt mit
dem vollen Blick auf die Eisſphinx der Hochgebirgswelt. Da
lag unter dem ſogenannten Känzli greifbar nahe der Rhone¬
gletſcher. Eine Eisſcholle, und von dieſer Scholle perlt ſachte
ein Tropfen und aus dieſem Tropfen wird ein Weltſtrom, der
unglaublich weit hinter der Erdkrümmung des Horizontes dort
in's himmelblaue Südmeer fällt. Dieſe Eisſcholle lag da in
ihrer ganzen heiligen Erhabenheit. Unter unſerm Fuß um
einen naſſen Schneefleck ein roter Kranz winziger kriechender
Rhododendron-Blüten. Dann ein kurzer Abſtieg zermürbten
Geſteins. Und nun groß, weiß, nackt, wie ein ungeheurer er¬
ſtarrter Leib die glatte Fläche des Gletſchers, ganz ohne dunkle
Schuttſtreifen. Hinten über dem Anfang nur ein paar kurze
Bergzacken, der Gletſcher ganz herrſchend, ohne beſonderen Berg,
der ihn entließ. Nur drüben die Seitenwand, die er in alten,
ſtolzeren Tagen noch faßte, von ihm blank poliert. Nach links
ging dann der Eisſtrom in königlicher Biegung abwärts, erſt
ganz rein in der Marmorlinie, bis er tiefer zerriß, ſich ſpaltete
wie zu einem grandioſen Trümmerfeld ſpitzer grüner Glas¬

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[50/0064] [Abbildung] Vor Jahren war's, an einem unvergeßlichen Wandertag. Wir waren von Zürich aus, immer zu Fuß, durch die Voralpen gewandert, Julius Hart, ſeine liebe Frau und ich. Im Nebel endlich herauf auf den Furka-Paß. Dann eine Abendſtunde von unſagbarer Reine des Himmels — und gerade jetzt mit dem vollen Blick auf die Eisſphinx der Hochgebirgswelt. Da lag unter dem ſogenannten Känzli greifbar nahe der Rhone¬ gletſcher. Eine Eisſcholle, und von dieſer Scholle perlt ſachte ein Tropfen und aus dieſem Tropfen wird ein Weltſtrom, der unglaublich weit hinter der Erdkrümmung des Horizontes dort in's himmelblaue Südmeer fällt. Dieſe Eisſcholle lag da in ihrer ganzen heiligen Erhabenheit. Unter unſerm Fuß um einen naſſen Schneefleck ein roter Kranz winziger kriechender Rhododendron-Blüten. Dann ein kurzer Abſtieg zermürbten Geſteins. Und nun groß, weiß, nackt, wie ein ungeheurer er¬ ſtarrter Leib die glatte Fläche des Gletſchers, ganz ohne dunkle Schuttſtreifen. Hinten über dem Anfang nur ein paar kurze Bergzacken, der Gletſcher ganz herrſchend, ohne beſonderen Berg, der ihn entließ. Nur drüben die Seitenwand, die er in alten, ſtolzeren Tagen noch faßte, von ihm blank poliert. Nach links ging dann der Eisſtrom in königlicher Biegung abwärts, erſt ganz rein in der Marmorlinie, bis er tiefer zerriß, ſich ſpaltete wie zu einem grandioſen Trümmerfeld ſpitzer grüner Glas¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/64>, abgerufen am 24.11.2024.