Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

Ketten Erdteile durchsetzen wie die gelben Medusenschwärme
das blaue Meer: immer steht über dieser ganzen Nordhalbkugel
bis hoch an den Pol, bis unter die Senkrechte unter dem
wechselnden Polarstern heran die Coulisse eines grünen Wald-
und Wiesenlandes mit mäßigem Winter. Wie einst Korallen¬
tiere bis hoch zum Smith-Sund im polaren Nordamerika ihre
Dome auftürmen, also Tiere, die wir heute nur aus den
warmen Tropenmeeren kennen, so geht jetzt mindestens noch
ein Hauch von lorbeergrünem Dauerwald bis in unwahrschein¬
lich hohe Breiten hinauf. Die Fichte, die über verschollenen
nordeuropäischen Strömen ihre goldenen Harzthränen weint,
aus denen nachher Bernstein geworden ist, weist auf einen
Wald, in dem neben Araukarien und Sumpfcypressen noch die
Seychellen-Palme ihr schönes Blätterhaupt wiegte. Machtlos
war der Winter auch nur im heutigen Sinn. Im Rheinthal
lag der Alligator, das Nilpferd tauchte auf und ab, Papa¬
geien kreischten und Affen jagten sich im Dickicht über der
sonnigen Bucht. Aus der Grasebene, wo unendlich viel später
der Grieche den Kampf zwischen Europa und Asien ausfocht,
stieg der lange Hals der Giraffe und das Erdferkel wühlte im
Termitenbau.

Da aber, gegen Ende dieser im Sinne des grünen Natur¬
bildes paradiesischen Zeit der Nordlande, vollzieht sich das absolut
Unerwartete, dessen Akten vielleicht wirklich im kosmischen Fach
liegen. Die Durchschnittstemperatur geht nicht nur auf das heutige
Maß, sondern noch um eine kurze, aber entsetzlich folgenschwere
Skala darüber hinab. Wer auf fernem Stern beobachten kann, der
sieht, wie auf das Nordhaupt der Erde eine verdächtige weiße
Platte sich legt. Und diese Platte wächst und wächst. Gegen
Europa, Sibirien, Nordamerika zu rückt es an gleich einer
wandelnden Glocke, die alles Leben vor sich hertreibt wie ein
dämonisch Unfaßbares von fremdem Planeten. Was unter sie
fällt, erstickt. Denn sie ist von Eis, kompakt von Eis. So
wälzt sie sich gegen Europa heran, als Eisgletscher der Höhen

Ketten Erdteile durchſetzen wie die gelben Meduſenſchwärme
das blaue Meer: immer ſteht über dieſer ganzen Nordhalbkugel
bis hoch an den Pol, bis unter die Senkrechte unter dem
wechſelnden Polarſtern heran die Couliſſe eines grünen Wald-
und Wieſenlandes mit mäßigem Winter. Wie einſt Korallen¬
tiere bis hoch zum Smith-Sund im polaren Nordamerika ihre
Dome auftürmen, alſo Tiere, die wir heute nur aus den
warmen Tropenmeeren kennen, ſo geht jetzt mindeſtens noch
ein Hauch von lorbeergrünem Dauerwald bis in unwahrſchein¬
lich hohe Breiten hinauf. Die Fichte, die über verſchollenen
nordeuropäiſchen Strömen ihre goldenen Harzthränen weint,
aus denen nachher Bernſtein geworden iſt, weiſt auf einen
Wald, in dem neben Araukarien und Sumpfcypreſſen noch die
Seychellen-Palme ihr ſchönes Blätterhaupt wiegte. Machtlos
war der Winter auch nur im heutigen Sinn. Im Rheinthal
lag der Alligator, das Nilpferd tauchte auf und ab, Papa¬
geien kreiſchten und Affen jagten ſich im Dickicht über der
ſonnigen Bucht. Aus der Grasebene, wo unendlich viel ſpäter
der Grieche den Kampf zwiſchen Europa und Aſien ausfocht,
ſtieg der lange Hals der Giraffe und das Erdferkel wühlte im
Termitenbau.

Da aber, gegen Ende dieſer im Sinne des grünen Natur¬
bildes paradieſiſchen Zeit der Nordlande, vollzieht ſich das abſolut
Unerwartete, deſſen Akten vielleicht wirklich im kosmiſchen Fach
liegen. Die Durchſchnittstemperatur geht nicht nur auf das heutige
Maß, ſondern noch um eine kurze, aber entſetzlich folgenſchwere
Skala darüber hinab. Wer auf fernem Stern beobachten kann, der
ſieht, wie auf das Nordhaupt der Erde eine verdächtige weiße
Platte ſich legt. Und dieſe Platte wächſt und wächſt. Gegen
Europa, Sibirien, Nordamerika zu rückt es an gleich einer
wandelnden Glocke, die alles Leben vor ſich hertreibt wie ein
dämoniſch Unfaßbares von fremdem Planeten. Was unter ſie
fällt, erſtickt. Denn ſie iſt von Eis, kompakt von Eis. So
wälzt ſie ſich gegen Europa heran, als Eisgletſcher der Höhen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0058" n="44"/>
Ketten Erdteile durch&#x017F;etzen wie die gelben Medu&#x017F;en&#x017F;chwärme<lb/>
das blaue Meer: immer &#x017F;teht über die&#x017F;er ganzen Nordhalbkugel<lb/>
bis hoch an den Pol, bis unter die Senkrechte unter dem<lb/>
wech&#x017F;elnden Polar&#x017F;tern heran die Couli&#x017F;&#x017F;e eines grünen Wald-<lb/>
und Wie&#x017F;enlandes mit mäßigem Winter. Wie ein&#x017F;t Korallen¬<lb/>
tiere bis hoch zum Smith-Sund im polaren Nordamerika ihre<lb/>
Dome auftürmen, al&#x017F;o Tiere, die wir heute nur aus den<lb/>
warmen Tropenmeeren kennen, &#x017F;o geht jetzt minde&#x017F;tens noch<lb/>
ein Hauch von lorbeergrünem Dauerwald bis in unwahr&#x017F;chein¬<lb/>
lich hohe Breiten hinauf. Die Fichte, die über ver&#x017F;chollenen<lb/>
nordeuropäi&#x017F;chen Strömen ihre goldenen Harzthränen weint,<lb/>
aus denen nachher Bern&#x017F;tein geworden i&#x017F;t, wei&#x017F;t auf einen<lb/>
Wald, in dem neben Araukarien und Sumpfcypre&#x017F;&#x017F;en noch die<lb/>
Seychellen-Palme ihr &#x017F;chönes Blätterhaupt wiegte. Machtlos<lb/>
war der Winter auch nur im heutigen Sinn. Im Rheinthal<lb/>
lag der Alligator, das Nilpferd tauchte auf und ab, Papa¬<lb/>
geien krei&#x017F;chten und Affen jagten &#x017F;ich im Dickicht über der<lb/>
&#x017F;onnigen Bucht. Aus der Grasebene, wo unendlich viel &#x017F;päter<lb/>
der Grieche den Kampf zwi&#x017F;chen Europa und A&#x017F;ien ausfocht,<lb/>
&#x017F;tieg der lange Hals der Giraffe und das Erdferkel wühlte im<lb/>
Termitenbau.</p><lb/>
        <p>Da aber, gegen Ende die&#x017F;er im Sinne des grünen Natur¬<lb/>
bildes paradie&#x017F;i&#x017F;chen Zeit der Nordlande, vollzieht &#x017F;ich das ab&#x017F;olut<lb/>
Unerwartete, de&#x017F;&#x017F;en Akten vielleicht wirklich im kosmi&#x017F;chen Fach<lb/>
liegen. Die Durch&#x017F;chnittstemperatur geht nicht nur auf das heutige<lb/>
Maß, &#x017F;ondern noch um eine kurze, aber ent&#x017F;etzlich folgen&#x017F;chwere<lb/>
Skala darüber hinab. Wer auf fernem Stern beobachten kann, der<lb/>
&#x017F;ieht, wie auf das Nordhaupt der Erde eine verdächtige weiße<lb/>
Platte &#x017F;ich legt. Und die&#x017F;e Platte wäch&#x017F;t und wäch&#x017F;t. Gegen<lb/>
Europa, Sibirien, Nordamerika zu rückt es an gleich einer<lb/>
wandelnden Glocke, die alles Leben vor &#x017F;ich hertreibt wie ein<lb/>
dämoni&#x017F;ch Unfaßbares von fremdem Planeten. Was unter &#x017F;ie<lb/>
fällt, er&#x017F;tickt. Denn &#x017F;ie i&#x017F;t von Eis, kompakt von Eis. So<lb/>
wälzt &#x017F;ie &#x017F;ich gegen Europa heran, als Eisglet&#x017F;cher der Höhen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0058] Ketten Erdteile durchſetzen wie die gelben Meduſenſchwärme das blaue Meer: immer ſteht über dieſer ganzen Nordhalbkugel bis hoch an den Pol, bis unter die Senkrechte unter dem wechſelnden Polarſtern heran die Couliſſe eines grünen Wald- und Wieſenlandes mit mäßigem Winter. Wie einſt Korallen¬ tiere bis hoch zum Smith-Sund im polaren Nordamerika ihre Dome auftürmen, alſo Tiere, die wir heute nur aus den warmen Tropenmeeren kennen, ſo geht jetzt mindeſtens noch ein Hauch von lorbeergrünem Dauerwald bis in unwahrſchein¬ lich hohe Breiten hinauf. Die Fichte, die über verſchollenen nordeuropäiſchen Strömen ihre goldenen Harzthränen weint, aus denen nachher Bernſtein geworden iſt, weiſt auf einen Wald, in dem neben Araukarien und Sumpfcypreſſen noch die Seychellen-Palme ihr ſchönes Blätterhaupt wiegte. Machtlos war der Winter auch nur im heutigen Sinn. Im Rheinthal lag der Alligator, das Nilpferd tauchte auf und ab, Papa¬ geien kreiſchten und Affen jagten ſich im Dickicht über der ſonnigen Bucht. Aus der Grasebene, wo unendlich viel ſpäter der Grieche den Kampf zwiſchen Europa und Aſien ausfocht, ſtieg der lange Hals der Giraffe und das Erdferkel wühlte im Termitenbau. Da aber, gegen Ende dieſer im Sinne des grünen Natur¬ bildes paradieſiſchen Zeit der Nordlande, vollzieht ſich das abſolut Unerwartete, deſſen Akten vielleicht wirklich im kosmiſchen Fach liegen. Die Durchſchnittstemperatur geht nicht nur auf das heutige Maß, ſondern noch um eine kurze, aber entſetzlich folgenſchwere Skala darüber hinab. Wer auf fernem Stern beobachten kann, der ſieht, wie auf das Nordhaupt der Erde eine verdächtige weiße Platte ſich legt. Und dieſe Platte wächſt und wächſt. Gegen Europa, Sibirien, Nordamerika zu rückt es an gleich einer wandelnden Glocke, die alles Leben vor ſich hertreibt wie ein dämoniſch Unfaßbares von fremdem Planeten. Was unter ſie fällt, erſtickt. Denn ſie iſt von Eis, kompakt von Eis. So wälzt ſie ſich gegen Europa heran, als Eisgletſcher der Höhen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/58
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/58>, abgerufen am 19.05.2024.