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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Nun denn: dieses immer wieder durchgepaukte Weltprinzip
sehen wir im Organischen erhöhte schaffende Kraft gewinnen.
Es waltet dort in einer bestimmten Form, indem es rhythmische
Gebilde nach Art der Organbildung hervorbringt, die durch
Vererbung bewahrt und fort und fort neu produziert werden.
Bis endlich im Gehirngeist des höheren Tieres die gleiche
Sache ausbricht auch als unmittelbare Geistesregung des "Ästhe¬
tischen": -- als Sinn für Schönes und Wahl des Schönen,
sobald Schönes und Unschönes, Harmonisches und Disharmonisches
durcheinander zur Wahl gestellt sind.

Wie man bei der wachsenden lebendigen Pflanze eine
dunkle Fähigkeit beobachtet, die sie ihre Teile genau auf die
Schwerkraft einstellen, z. B. die Wurzel senkrecht zur Erdschwere
hinabbohren läßt (der moderne Forscher nennt das "Geo¬
tropismus"), -- so möchte ich in diesem triebhaft zwangsweisen
Reagieren des höheren Tiergehirns auf rhythmische Schönheit
auch eine Art solchen festen "Tropismus", eine Art Rhythmo¬
tropismus, wenn das Wort einmal durchgehen soll, erblicken.
Seine höchste Blüte ist unsere Kunst.

Sieh dir die alte geschnitzte Klosterthür dort an. Daß
sie ein Loch in die Mauer schlägt, durch das dieses Stück
menschlicher Höhle, das Zimmer hier, überhaupt bewohnbar,
betretbar wird, gehört in ein praktisches Gebiet, das mit diesem
Rhythmustrieb zunächst gar nichts zu thun hat. Desgleichen,
daß sie eine verschließbare Schutzwand gegen Zugluft und un¬
berufene Gäste bildet. Aber daß sie diese Gesamtform da hat,
-- nicht genau quadratisch, sondern die Gestalt eines Rechtecks,
das, mathematisch gesprochen, dem sogenannten Harmoniever¬
hältnis vom "goldenen Schnitt" entspricht --: das beruht
allerdings auf deinem menschlichen Rhythmotropismus, dem
gerade dieses Linienverhältnis am harmonisch wohlgefälligsten
erscheint. Und an der gleichen Ursache liegt, daß das alte
Holz dieser Thür in schöne Ornamente verarbeitet ist, -- eine
Sache, die für den reinen Öffnungs- oder Verschlußzweck wahr¬

Nun denn: dieſes immer wieder durchgepaukte Weltprinzip
ſehen wir im Organiſchen erhöhte ſchaffende Kraft gewinnen.
Es waltet dort in einer beſtimmten Form, indem es rhythmiſche
Gebilde nach Art der Organbildung hervorbringt, die durch
Vererbung bewahrt und fort und fort neu produziert werden.
Bis endlich im Gehirngeiſt des höheren Tieres die gleiche
Sache ausbricht auch als unmittelbare Geiſtesregung des „Äſthe¬
tiſchen“: — als Sinn für Schönes und Wahl des Schönen,
ſobald Schönes und Unſchönes, Harmoniſches und Disharmoniſches
durcheinander zur Wahl geſtellt ſind.

Wie man bei der wachſenden lebendigen Pflanze eine
dunkle Fähigkeit beobachtet, die ſie ihre Teile genau auf die
Schwerkraft einſtellen, z. B. die Wurzel ſenkrecht zur Erdſchwere
hinabbohren läßt (der moderne Forſcher nennt das „Geo¬
tropismus“), — ſo möchte ich in dieſem triebhaft zwangsweiſen
Reagieren des höheren Tiergehirns auf rhythmiſche Schönheit
auch eine Art ſolchen feſten „Tropismus“, eine Art Rhythmo¬
tropismus, wenn das Wort einmal durchgehen ſoll, erblicken.
Seine höchſte Blüte iſt unſere Kunſt.

Sieh dir die alte geſchnitzte Kloſterthür dort an. Daß
ſie ein Loch in die Mauer ſchlägt, durch das dieſes Stück
menſchlicher Höhle, das Zimmer hier, überhaupt bewohnbar,
betretbar wird, gehört in ein praktiſches Gebiet, das mit dieſem
Rhythmustrieb zunächſt gar nichts zu thun hat. Desgleichen,
daß ſie eine verſchließbare Schutzwand gegen Zugluft und un¬
berufene Gäſte bildet. Aber daß ſie dieſe Geſamtform da hat,
— nicht genau quadratiſch, ſondern die Geſtalt eines Rechtecks,
das, mathematiſch geſprochen, dem ſogenannten Harmoniever¬
hältnis vom „goldenen Schnitt“ entſpricht —: das beruht
allerdings auf deinem menſchlichen Rhythmotropismus, dem
gerade dieſes Linienverhältnis am harmoniſch wohlgefälligſten
erſcheint. Und an der gleichen Urſache liegt, daß das alte
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[26/0040] Nun denn: dieſes immer wieder durchgepaukte Weltprinzip ſehen wir im Organiſchen erhöhte ſchaffende Kraft gewinnen. Es waltet dort in einer beſtimmten Form, indem es rhythmiſche Gebilde nach Art der Organbildung hervorbringt, die durch Vererbung bewahrt und fort und fort neu produziert werden. Bis endlich im Gehirngeiſt des höheren Tieres die gleiche Sache ausbricht auch als unmittelbare Geiſtesregung des „Äſthe¬ tiſchen“: — als Sinn für Schönes und Wahl des Schönen, ſobald Schönes und Unſchönes, Harmoniſches und Disharmoniſches durcheinander zur Wahl geſtellt ſind. Wie man bei der wachſenden lebendigen Pflanze eine dunkle Fähigkeit beobachtet, die ſie ihre Teile genau auf die Schwerkraft einſtellen, z. B. die Wurzel ſenkrecht zur Erdſchwere hinabbohren läßt (der moderne Forſcher nennt das „Geo¬ tropismus“), — ſo möchte ich in dieſem triebhaft zwangsweiſen Reagieren des höheren Tiergehirns auf rhythmiſche Schönheit auch eine Art ſolchen feſten „Tropismus“, eine Art Rhythmo¬ tropismus, wenn das Wort einmal durchgehen ſoll, erblicken. Seine höchſte Blüte iſt unſere Kunſt. Sieh dir die alte geſchnitzte Kloſterthür dort an. Daß ſie ein Loch in die Mauer ſchlägt, durch das dieſes Stück menſchlicher Höhle, das Zimmer hier, überhaupt bewohnbar, betretbar wird, gehört in ein praktiſches Gebiet, das mit dieſem Rhythmustrieb zunächſt gar nichts zu thun hat. Desgleichen, daß ſie eine verſchließbare Schutzwand gegen Zugluft und un¬ berufene Gäſte bildet. Aber daß ſie dieſe Geſamtform da hat, — nicht genau quadratiſch, ſondern die Geſtalt eines Rechtecks, das, mathematiſch geſprochen, dem ſogenannten Harmoniever¬ hältnis vom „goldenen Schnitt“ entſpricht —: das beruht allerdings auf deinem menſchlichen Rhythmotropismus, dem gerade dieſes Linienverhältnis am harmoniſch wohlgefälligſten erſcheint. Und an der gleichen Urſache liegt, daß das alte Holz dieſer Thür in ſchöne Ornamente verarbeitet iſt, — eine Sache, die für den reinen Öffnungs- oder Verſchlußzweck wahr¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/40>, abgerufen am 02.05.2024.