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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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"Faust" entwickeln mußte. Gerade im Ganzen der Natur
verrechnet sich jeder scheinbare Zufall als Notwendigkeit, als
Stück einer großen Fügung.

Wenn man von unten ins Getriebe der Dinge schaut, so
sieht's ja wohl wüst aus. Da fliegen die Fetzen von un¬
gezählten mißlungenen Versuchen, ehe etwas zustande kommt,
etwa eine tierische Anpassung oder ein geregelter Planetenlauf.
Man möchte wirklich denken, es sei ein ganz wilder Zufall
bloß, daß endlich etwas glückt. Aber von oben besehen sind
das ja nur Experimente in der Natur selbst. Ich könnte mir
einen Standpunkt denken, von dem die Entstehungsgeschichte
des Faust in Goethes Gehirn mit ihrem zweifellos unendlich
vielfältigen Abmühen, Experimentieren, Verwerfen, endlich
Treffen ganz ähnlich wie so ein wilder Zufallstanz im Würfel¬
becher aussähe. Trotzdem bleibt der fertig dastehende Faust,
was er ist, und wir sagen mit vollem Recht: Goethes Größe
hat ihn geschaffen. Das Wie bleibt dabei seine Sache.

Dabei soll das Gleichnis aber noch nicht einmal ganz
durchgeführt und durchführbar sein. Goethes Faust setzt als
Dichterarbeit eines Menschen auf dem Gipfel der uns be¬
kannten Menschheit sicherlich eine ganz andere Summe bewußten
Wollens und Zielstrebens voraus als etwa die Entstehung eines
grünen Laubfrosches. Aber hier vergessen wir doch ja nicht, daß
dieser Goethe ja auch in der Natur ist, ein Stück, ein Teil,
eine That von ihr -- Goethe mit allem, was in ihm steckt.

Ich weiß wohl, es giebt Naturdefinitionen, bei denen
"die Natur" immer so ein schreckhaftes Monstrum aus "Kraft
und Stoff" ist. Es liegt unter uns wie ein großer Schlund,
der alles frißt, nichts weiter. Auf diesem Wege schiefer
Definitionen, die in Wahrheit hohle Abstraktionen der Studier¬
stube sind, kommst du natürlich nicht leicht mit optimistischen
Zügen vor dieser Natur durch.

Aber es ist ja gerade die große Errungenschaft unseres
modernen Denkens und Weltanschauens, daß wir auch den

„Fauſt“ entwickeln mußte. Gerade im Ganzen der Natur
verrechnet ſich jeder ſcheinbare Zufall als Notwendigkeit, als
Stück einer großen Fügung.

Wenn man von unten ins Getriebe der Dinge ſchaut, ſo
ſieht's ja wohl wüſt aus. Da fliegen die Fetzen von un¬
gezählten mißlungenen Verſuchen, ehe etwas zuſtande kommt,
etwa eine tieriſche Anpaſſung oder ein geregelter Planetenlauf.
Man möchte wirklich denken, es ſei ein ganz wilder Zufall
bloß, daß endlich etwas glückt. Aber von oben beſehen ſind
das ja nur Experimente in der Natur ſelbſt. Ich könnte mir
einen Standpunkt denken, von dem die Entſtehungsgeſchichte
des Fauſt in Goethes Gehirn mit ihrem zweifellos unendlich
vielfältigen Abmühen, Experimentieren, Verwerfen, endlich
Treffen ganz ähnlich wie ſo ein wilder Zufallstanz im Würfel¬
becher ausſähe. Trotzdem bleibt der fertig daſtehende Fauſt,
was er iſt, und wir ſagen mit vollem Recht: Goethes Größe
hat ihn geſchaffen. Das Wie bleibt dabei ſeine Sache.

Dabei ſoll das Gleichnis aber noch nicht einmal ganz
durchgeführt und durchführbar ſein. Goethes Fauſt ſetzt als
Dichterarbeit eines Menſchen auf dem Gipfel der uns be¬
kannten Menſchheit ſicherlich eine ganz andere Summe bewußten
Wollens und Zielſtrebens voraus als etwa die Entſtehung eines
grünen Laubfroſches. Aber hier vergeſſen wir doch ja nicht, daß
dieſer Goethe ja auch in der Natur iſt, ein Stück, ein Teil,
eine That von ihr — Goethe mit allem, was in ihm ſteckt.

Ich weiß wohl, es giebt Naturdefinitionen, bei denen
„die Natur“ immer ſo ein ſchreckhaftes Monſtrum aus „Kraft
und Stoff“ iſt. Es liegt unter uns wie ein großer Schlund,
der alles frißt, nichts weiter. Auf dieſem Wege ſchiefer
Definitionen, die in Wahrheit hohle Abſtraktionen der Studier¬
ſtube ſind, kommſt du natürlich nicht leicht mit optimiſtiſchen
Zügen vor dieſer Natur durch.

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[368/0382] „Fauſt“ entwickeln mußte. Gerade im Ganzen der Natur verrechnet ſich jeder ſcheinbare Zufall als Notwendigkeit, als Stück einer großen Fügung. Wenn man von unten ins Getriebe der Dinge ſchaut, ſo ſieht's ja wohl wüſt aus. Da fliegen die Fetzen von un¬ gezählten mißlungenen Verſuchen, ehe etwas zuſtande kommt, etwa eine tieriſche Anpaſſung oder ein geregelter Planetenlauf. Man möchte wirklich denken, es ſei ein ganz wilder Zufall bloß, daß endlich etwas glückt. Aber von oben beſehen ſind das ja nur Experimente in der Natur ſelbſt. Ich könnte mir einen Standpunkt denken, von dem die Entſtehungsgeſchichte des Fauſt in Goethes Gehirn mit ihrem zweifellos unendlich vielfältigen Abmühen, Experimentieren, Verwerfen, endlich Treffen ganz ähnlich wie ſo ein wilder Zufallstanz im Würfel¬ becher ausſähe. Trotzdem bleibt der fertig daſtehende Fauſt, was er iſt, und wir ſagen mit vollem Recht: Goethes Größe hat ihn geſchaffen. Das Wie bleibt dabei ſeine Sache. Dabei ſoll das Gleichnis aber noch nicht einmal ganz durchgeführt und durchführbar ſein. Goethes Fauſt ſetzt als Dichterarbeit eines Menſchen auf dem Gipfel der uns be¬ kannten Menſchheit ſicherlich eine ganz andere Summe bewußten Wollens und Zielſtrebens voraus als etwa die Entſtehung eines grünen Laubfroſches. Aber hier vergeſſen wir doch ja nicht, daß dieſer Goethe ja auch in der Natur iſt, ein Stück, ein Teil, eine That von ihr — Goethe mit allem, was in ihm ſteckt. Ich weiß wohl, es giebt Naturdefinitionen, bei denen „die Natur“ immer ſo ein ſchreckhaftes Monſtrum aus „Kraft und Stoff“ iſt. Es liegt unter uns wie ein großer Schlund, der alles frißt, nichts weiter. Auf dieſem Wege ſchiefer Definitionen, die in Wahrheit hohle Abſtraktionen der Studier¬ ſtube ſind, kommſt du natürlich nicht leicht mit optimiſtiſchen Zügen vor dieſer Natur durch. Aber es iſt ja gerade die große Errungenſchaft unſeres modernen Denkens und Weltanſchauens, daß wir auch den

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/382>, abgerufen am 22.11.2024.