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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Sollte er die Welt optimistisch oder pessimistisch werten?

Die ganze Größe des Menschen erscheint in diesem Wahl¬
moment. Welche enorme Sachlage in dieser Wahl! Seit
Äonen der Zeit, so weit unser Blick rückschauend überhaupt
gehen kann, von den ursprünglichsten Nebelballungen der Welt¬
materie an, war diese Welt offenbar stets bejaht worden, in
nie abreißender kontinuierlicher Folge. Dem Menschen aber
steht das plötzlich zur Diskussion. Gegen die Weltbejahung
stellt sich ihm vollkommen ernstlich die Möglichkeit der Welt¬
verneinung. Wenn die Weltanschauung nun ergiebt, daß sie
eine fatale Rechnung ist, die in eitel Unheil führt: warum
mit unserm Bewußtsein dieses Teufelsexempel noch weiter
rechnen?

In dieser Betrachtungsweise muß aber sofort die Liebe
heran. Was, zum Henker, Unsterblichkeit der Art? Grade
hier muß vielmehr die ewige Rechnung systematisch totgetreten,
Zahl für Zahl wieder abgewischt werden.

Es ist nicht zu leugnen, daß vor einer solchen Situation
die Liebe noch nie gestanden hatte, -- in allen Vorfahren¬
ketten des Menschen nicht, nirgendwo unterhalb. Sie war ein
Produkt der Weltbejahung, vielleicht ihr sinnreichstes geradezu.
Aber nun? Hier begann eine ganz neue Sache. Im Moment,
da der erwachte Geist des Menschen ihr Alliierter werden sollte,
diese unheimliche Möglichkeit: daß dieser Mensch sie ausstrich
mit einem dicken Federstrich seiner Weltanschauung ...

Sehen wir uns mit der Unbefangenheit unserer ganzen
Betrachtung aber auch diesen schwarzen Federstrich noch einen
Moment an.

Zunächst eines. Wir haben in unseren früheren Gesprächen
immer der Zukunftsentwickelung der Menschheit einen gewissen
absoluten Wert zugestanden, den Wert einer durchaus fort¬
gehenden Linie in ihren großen, schon jetzt sichtbaren Idealen.
In diesem Sinne mußt du auch hier folgerichtig das Größte
zugeben. Du mußt zugeben, daß alle Menschen sich allmählich

Sollte er die Welt optimiſtiſch oder peſſimiſtiſch werten?

Die ganze Größe des Menſchen erſcheint in dieſem Wahl¬
moment. Welche enorme Sachlage in dieſer Wahl! Seit
Äonen der Zeit, ſo weit unſer Blick rückſchauend überhaupt
gehen kann, von den urſprünglichſten Nebelballungen der Welt¬
materie an, war dieſe Welt offenbar ſtets bejaht worden, in
nie abreißender kontinuierlicher Folge. Dem Menſchen aber
ſteht das plötzlich zur Diskuſſion. Gegen die Weltbejahung
ſtellt ſich ihm vollkommen ernſtlich die Möglichkeit der Welt¬
verneinung. Wenn die Weltanſchauung nun ergiebt, daß ſie
eine fatale Rechnung iſt, die in eitel Unheil führt: warum
mit unſerm Bewußtſein dieſes Teufelsexempel noch weiter
rechnen?

In dieſer Betrachtungsweiſe muß aber ſofort die Liebe
heran. Was, zum Henker, Unſterblichkeit der Art? Grade
hier muß vielmehr die ewige Rechnung ſyſtematiſch totgetreten,
Zahl für Zahl wieder abgewiſcht werden.

Es iſt nicht zu leugnen, daß vor einer ſolchen Situation
die Liebe noch nie geſtanden hatte, — in allen Vorfahren¬
ketten des Menſchen nicht, nirgendwo unterhalb. Sie war ein
Produkt der Weltbejahung, vielleicht ihr ſinnreichſtes geradezu.
Aber nun? Hier begann eine ganz neue Sache. Im Moment,
da der erwachte Geiſt des Menſchen ihr Alliierter werden ſollte,
dieſe unheimliche Möglichkeit: daß dieſer Menſch ſie ausſtrich
mit einem dicken Federſtrich ſeiner Weltanſchauung ...

Sehen wir uns mit der Unbefangenheit unſerer ganzen
Betrachtung aber auch dieſen ſchwarzen Federſtrich noch einen
Moment an.

Zunächſt eines. Wir haben in unſeren früheren Geſprächen
immer der Zukunftsentwickelung der Menſchheit einen gewiſſen
abſoluten Wert zugeſtanden, den Wert einer durchaus fort¬
gehenden Linie in ihren großen, ſchon jetzt ſichtbaren Idealen.
In dieſem Sinne mußt du auch hier folgerichtig das Größte
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[357/0371] Sollte er die Welt optimiſtiſch oder peſſimiſtiſch werten? Die ganze Größe des Menſchen erſcheint in dieſem Wahl¬ moment. Welche enorme Sachlage in dieſer Wahl! Seit Äonen der Zeit, ſo weit unſer Blick rückſchauend überhaupt gehen kann, von den urſprünglichſten Nebelballungen der Welt¬ materie an, war dieſe Welt offenbar ſtets bejaht worden, in nie abreißender kontinuierlicher Folge. Dem Menſchen aber ſteht das plötzlich zur Diskuſſion. Gegen die Weltbejahung ſtellt ſich ihm vollkommen ernſtlich die Möglichkeit der Welt¬ verneinung. Wenn die Weltanſchauung nun ergiebt, daß ſie eine fatale Rechnung iſt, die in eitel Unheil führt: warum mit unſerm Bewußtſein dieſes Teufelsexempel noch weiter rechnen? In dieſer Betrachtungsweiſe muß aber ſofort die Liebe heran. Was, zum Henker, Unſterblichkeit der Art? Grade hier muß vielmehr die ewige Rechnung ſyſtematiſch totgetreten, Zahl für Zahl wieder abgewiſcht werden. Es iſt nicht zu leugnen, daß vor einer ſolchen Situation die Liebe noch nie geſtanden hatte, — in allen Vorfahren¬ ketten des Menſchen nicht, nirgendwo unterhalb. Sie war ein Produkt der Weltbejahung, vielleicht ihr ſinnreichſtes geradezu. Aber nun? Hier begann eine ganz neue Sache. Im Moment, da der erwachte Geiſt des Menſchen ihr Alliierter werden ſollte, dieſe unheimliche Möglichkeit: daß dieſer Menſch ſie ausſtrich mit einem dicken Federſtrich ſeiner Weltanſchauung ... Sehen wir uns mit der Unbefangenheit unſerer ganzen Betrachtung aber auch dieſen ſchwarzen Federſtrich noch einen Moment an. Zunächſt eines. Wir haben in unſeren früheren Geſprächen immer der Zukunftsentwickelung der Menſchheit einen gewiſſen abſoluten Wert zugeſtanden, den Wert einer durchaus fort¬ gehenden Linie in ihren großen, ſchon jetzt ſichtbaren Idealen. In dieſem Sinne mußt du auch hier folgerichtig das Größte zugeben. Du mußt zugeben, daß alle Menſchen ſich allmählich

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/371>, abgerufen am 24.11.2024.