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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Tempelakt gleichsam noch einmal vom Urzustande los, in dem
sie allen Männern gehört hatte. Und das klingt ja wieder so
plausibel. Aber es ist die Erklärung, wie sie eine Zeit in die
Dinge hineininterpretiert, die von der Wucht des Religiösen
in der Menschheit keine Ahnung hat.

In Wahrheit handelt es sich hier um etwas unvergleich¬
lich viel komplizierteres als es das einfache Herrenrecht und
Pavianrecht des jus primae noctis darstellt.

Der Akt im Tempel der Liebesgöttin zu Babylon ist ein
Gottesopfer. Den Göttern wird unter Umständen alles dar¬
gebracht: heute die erste Frucht des Feldes, die ihnen lieblich
als Brandopfer duftet, morgen ein Widder, dann gar ein
Mensch, der auf dem Altar verblutet, dem das rauchende Herz
mit scharfer Steinklinge aus der Brust geschnitten wird wie im
alten Mexiko, der im hohlen Bauche des ehernen Molochbildes
gebraten wird. In diese Steigerung gehört auch die weibliche
Unschuld, die Jungfrauschaft. Wohl liegt ein gesteigerter Sozial¬
gedanke ganz tief auch hier darunter: der Gott ist der aller¬
oberste, absolute Herrscher, dem alles zusammen mitgehört und
zuerst gehört, was der Einzelne hat. Aber das hat sich dann
durchgewühlt durch das ganze Labyrinth menschlicher Phantasie,
hat die ganzen unendlichen Komplikationen des Religiösen er¬
fahren.

Die Götter sind keine bloß ins Riesige vergrößerten Sym¬
bole sozialer, wirtschaftlicher Dinge. Es sind wilde Traum¬
gestalten, Halluzinationen, leibhaftig die erregte Phantasie durch¬
wandelnde Gespenster. Wie das Waldgespenst wirklich mit
Steinen wirft oder den Bauern Milch forttrinkt, so kommt
der Alp, der Nachtmar, nachts zu der Jungfrau ins Bett und
raubt ihr die Jungfrauschaft. In solche ganz realistischen
Bilder der religiösen Phantasie muß man sich zuerst eindenken.
Der Alptraum, das Fieber, der Wahnsinn, die unberechenbar
aus dem Innern heraus schaffende Phantasie, die ganze Grenze,
wo die Welt schwankt zwischen etwas von außen mir Gegebenem

Tempelakt gleichſam noch einmal vom Urzuſtande los, in dem
ſie allen Männern gehört hatte. Und das klingt ja wieder ſo
plauſibel. Aber es iſt die Erklärung, wie ſie eine Zeit in die
Dinge hineininterpretiert, die von der Wucht des Religiöſen
in der Menſchheit keine Ahnung hat.

In Wahrheit handelt es ſich hier um etwas unvergleich¬
lich viel komplizierteres als es das einfache Herrenrecht und
Pavianrecht des jus primae noctis darſtellt.

Der Akt im Tempel der Liebesgöttin zu Babylon iſt ein
Gottesopfer. Den Göttern wird unter Umſtänden alles dar¬
gebracht: heute die erſte Frucht des Feldes, die ihnen lieblich
als Brandopfer duftet, morgen ein Widder, dann gar ein
Menſch, der auf dem Altar verblutet, dem das rauchende Herz
mit ſcharfer Steinklinge aus der Bruſt geſchnitten wird wie im
alten Mexiko, der im hohlen Bauche des ehernen Molochbildes
gebraten wird. In dieſe Steigerung gehört auch die weibliche
Unſchuld, die Jungfrauſchaft. Wohl liegt ein geſteigerter Sozial¬
gedanke ganz tief auch hier darunter: der Gott iſt der aller¬
oberſte, abſolute Herrſcher, dem alles zuſammen mitgehört und
zuerſt gehört, was der Einzelne hat. Aber das hat ſich dann
durchgewühlt durch das ganze Labyrinth menſchlicher Phantaſie,
hat die ganzen unendlichen Komplikationen des Religiöſen er¬
fahren.

Die Götter ſind keine bloß ins Rieſige vergrößerten Sym¬
bole ſozialer, wirtſchaftlicher Dinge. Es ſind wilde Traum¬
geſtalten, Halluzinationen, leibhaftig die erregte Phantaſie durch¬
wandelnde Geſpenſter. Wie das Waldgeſpenſt wirklich mit
Steinen wirft oder den Bauern Milch forttrinkt, ſo kommt
der Alp, der Nachtmar, nachts zu der Jungfrau ins Bett und
raubt ihr die Jungfrauſchaft. In ſolche ganz realiſtiſchen
Bilder der religiöſen Phantaſie muß man ſich zuerſt eindenken.
Der Alptraum, das Fieber, der Wahnſinn, die unberechenbar
aus dem Innern heraus ſchaffende Phantaſie, die ganze Grenze,
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[277/0291] Tempelakt gleichſam noch einmal vom Urzuſtande los, in dem ſie allen Männern gehört hatte. Und das klingt ja wieder ſo plauſibel. Aber es iſt die Erklärung, wie ſie eine Zeit in die Dinge hineininterpretiert, die von der Wucht des Religiöſen in der Menſchheit keine Ahnung hat. In Wahrheit handelt es ſich hier um etwas unvergleich¬ lich viel komplizierteres als es das einfache Herrenrecht und Pavianrecht des jus primae noctis darſtellt. Der Akt im Tempel der Liebesgöttin zu Babylon iſt ein Gottesopfer. Den Göttern wird unter Umſtänden alles dar¬ gebracht: heute die erſte Frucht des Feldes, die ihnen lieblich als Brandopfer duftet, morgen ein Widder, dann gar ein Menſch, der auf dem Altar verblutet, dem das rauchende Herz mit ſcharfer Steinklinge aus der Bruſt geſchnitten wird wie im alten Mexiko, der im hohlen Bauche des ehernen Molochbildes gebraten wird. In dieſe Steigerung gehört auch die weibliche Unſchuld, die Jungfrauſchaft. Wohl liegt ein geſteigerter Sozial¬ gedanke ganz tief auch hier darunter: der Gott iſt der aller¬ oberſte, abſolute Herrſcher, dem alles zuſammen mitgehört und zuerſt gehört, was der Einzelne hat. Aber das hat ſich dann durchgewühlt durch das ganze Labyrinth menſchlicher Phantaſie, hat die ganzen unendlichen Komplikationen des Religiöſen er¬ fahren. Die Götter ſind keine bloß ins Rieſige vergrößerten Sym¬ bole ſozialer, wirtſchaftlicher Dinge. Es ſind wilde Traum¬ geſtalten, Halluzinationen, leibhaftig die erregte Phantaſie durch¬ wandelnde Geſpenſter. Wie das Waldgeſpenſt wirklich mit Steinen wirft oder den Bauern Milch forttrinkt, ſo kommt der Alp, der Nachtmar, nachts zu der Jungfrau ins Bett und raubt ihr die Jungfrauſchaft. In ſolche ganz realiſtiſchen Bilder der religiöſen Phantaſie muß man ſich zuerſt eindenken. Der Alptraum, das Fieber, der Wahnſinn, die unberechenbar aus dem Innern heraus ſchaffende Phantaſie, die ganze Grenze, wo die Welt ſchwankt zwiſchen etwas von außen mir Gegebenem

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/291>, abgerufen am 22.11.2024.