Anderswo sind Phasen mit der Ur-Phase verwechselt worden, die eben nach jener Theorie ganz späte, nacheheliche sein müßten: Fälle von großer Geringschätzung des Weibes, wie sie die auflösende Wirkung der Polygamie und des Weiberüber¬ flusses mit sich bringt. In solchen Fällen liegt den Männern nichts daran, Weiber auszutauschen, sie fühlen sich wie ein Be¬ sitzer riesiger Viehheerden, denen es nicht auf ein Schaf ankommt. Gerade hier aber ist das Weib ausgesprochen "Besitz", es fehlt ihm jede eigene freie Verfügung. Wir sehen in ganz abgezweigte Arabeskengewinde anstatt auf den einfachen Urgrund.
Wiederum hat das Umgekehrte verwirrend gewirkt: Ver¬ hältnisse wilder Völker, bei denen die "Seltenheit" der Frau entscheidend war. Wenn es in Australien Bräuche giebt, die einen verheirateten Mann seine Frau auch seinen ledigen Brüdern zur Verfügung stellen lassen, so sollte das ein bedeut¬ samer Abendrotstreifen einer Sitte sein, da Brüder ihre Frauen gemeinsam hatten, und das wieder ging zurück auf Genossen¬ schaftsbesitz an allen Stammesfrauen oder auch auf zwei Stämme, von denen alle Stammesbrüder des einen alle Stammesschwestern des andern in freier Liebe besuchten. Aber wo immer solche Spuren aufgetaucht sind, da sind sie -- abgesehen von der großen Unklarheit der Überlieferung an sich, die gewichtige Beweisstücke rasch wieder zum Unkenntlichen verflüchtigt hat -- immer und immer wieder erklärbar durch den Verdacht der Seltenheit. Das Weib ist in diesem Falle eine Kostbarkeit, zu kostbar für einen Mann. Mehrere müssen sich teilen darein, und am naheliegendsten ist da, daß es Brüder thun. Eine zwangsweise Vielmännerei (Polyandrie) statt Polygamie ist hier in die Ehe geraten, aber die Ehe selbst bleibt unberührt, sie ist das ältere, das nur auf einen Kompromiß auch hier eingegangen ist.
Endlich sind ins Feld geführt worden sonderbare Dinge, die da und dort in der Naturgeschichte des Menschentiers spuken und in denen in der That ziemlich deutlich gewisse Auflösungen,
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Anderswo ſind Phaſen mit der Ur-Phaſe verwechſelt worden, die eben nach jener Theorie ganz ſpäte, nacheheliche ſein müßten: Fälle von großer Geringſchätzung des Weibes, wie ſie die auflöſende Wirkung der Polygamie und des Weiberüber¬ fluſſes mit ſich bringt. In ſolchen Fällen liegt den Männern nichts daran, Weiber auszutauſchen, ſie fühlen ſich wie ein Be¬ ſitzer rieſiger Viehheerden, denen es nicht auf ein Schaf ankommt. Gerade hier aber iſt das Weib ausgeſprochen „Beſitz“, es fehlt ihm jede eigene freie Verfügung. Wir ſehen in ganz abgezweigte Arabeskengewinde anſtatt auf den einfachen Urgrund.
Wiederum hat das Umgekehrte verwirrend gewirkt: Ver¬ hältniſſe wilder Völker, bei denen die „Seltenheit“ der Frau entſcheidend war. Wenn es in Auſtralien Bräuche giebt, die einen verheirateten Mann ſeine Frau auch ſeinen ledigen Brüdern zur Verfügung ſtellen laſſen, ſo ſollte das ein bedeut¬ ſamer Abendrotſtreifen einer Sitte ſein, da Brüder ihre Frauen gemeinſam hatten, und das wieder ging zurück auf Genoſſen¬ ſchaftsbeſitz an allen Stammesfrauen oder auch auf zwei Stämme, von denen alle Stammesbrüder des einen alle Stammesſchweſtern des andern in freier Liebe beſuchten. Aber wo immer ſolche Spuren aufgetaucht ſind, da ſind ſie — abgeſehen von der großen Unklarheit der Überlieferung an ſich, die gewichtige Beweisſtücke raſch wieder zum Unkenntlichen verflüchtigt hat — immer und immer wieder erklärbar durch den Verdacht der Seltenheit. Das Weib iſt in dieſem Falle eine Koſtbarkeit, zu koſtbar für einen Mann. Mehrere müſſen ſich teilen darein, und am naheliegendſten iſt da, daß es Brüder thun. Eine zwangsweiſe Vielmännerei (Polyandrie) ſtatt Polygamie iſt hier in die Ehe geraten, aber die Ehe ſelbſt bleibt unberührt, ſie iſt das ältere, das nur auf einen Kompromiß auch hier eingegangen iſt.
Endlich ſind ins Feld geführt worden ſonderbare Dinge, die da und dort in der Naturgeſchichte des Menſchentiers ſpuken und in denen in der That ziemlich deutlich gewiſſe Auflöſungen,
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Anderswo ſind Phaſen mit der Ur-Phaſe verwechſelt worden,
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ſie die auflöſende Wirkung der Polygamie und des Weiberüber¬
fluſſes mit ſich bringt. In ſolchen Fällen liegt den Männern
nichts daran, Weiber auszutauſchen, ſie fühlen ſich wie ein Be¬
ſitzer rieſiger Viehheerden, denen es nicht auf ein Schaf ankommt.
Gerade hier aber iſt das Weib ausgeſprochen „Beſitz“, es fehlt
ihm jede eigene freie Verfügung. Wir ſehen in ganz abgezweigte
Arabeskengewinde anſtatt auf den einfachen Urgrund.
Wiederum hat das Umgekehrte verwirrend gewirkt: Ver¬
hältniſſe wilder Völker, bei denen die „Seltenheit“ der Frau
entſcheidend war. Wenn es in Auſtralien Bräuche giebt, die
einen verheirateten Mann ſeine Frau auch ſeinen ledigen
Brüdern zur Verfügung ſtellen laſſen, ſo ſollte das ein bedeut¬
ſamer Abendrotſtreifen einer Sitte ſein, da Brüder ihre Frauen
gemeinſam hatten, und das wieder ging zurück auf Genoſſen¬
ſchaftsbeſitz an allen Stammesfrauen oder auch auf zwei Stämme,
von denen alle Stammesbrüder des einen alle Stammesſchweſtern
des andern in freier Liebe beſuchten. Aber wo immer ſolche
Spuren aufgetaucht ſind, da ſind ſie — abgeſehen von der
großen Unklarheit der Überlieferung an ſich, die gewichtige
Beweisſtücke raſch wieder zum Unkenntlichen verflüchtigt hat —
immer und immer wieder erklärbar durch den Verdacht der
Seltenheit. Das Weib iſt in dieſem Falle eine Koſtbarkeit,
zu koſtbar für einen Mann. Mehrere müſſen ſich teilen darein,
und am naheliegendſten iſt da, daß es Brüder thun. Eine
zwangsweiſe Vielmännerei (Polyandrie) ſtatt Polygamie iſt
hier in die Ehe geraten, aber die Ehe ſelbſt bleibt unberührt,
ſie iſt das ältere, das nur auf einen Kompromiß auch hier
eingegangen iſt.
Endlich ſind ins Feld geführt worden ſonderbare Dinge, die
da und dort in der Naturgeſchichte des Menſchentiers ſpuken
und in denen in der That ziemlich deutlich gewiſſe Auflöſungen,
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/287>, abgerufen am 22.11.2024.
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