durch die Menschheit ruhig fallen. Wirf auch alles nach, was bloß daran anklingt. Es ist dessen auch in unserer Kultur ja mehr, als man gemeiniglich Wort haben will. Ich denke an Prostitutionszüge mitten in unseren Ehen. Frauen, die aus offen erklärtem Leichtsinn, aus den Bequemlichkeiten der Welt¬ dame heraus auch in der Ehe überhaupt keine Kinder mehr haben wollen und in diesem Punkt mitten in der schirmenden Gesellschaftsform der Ehe ein mehr oder minder verblümtes Kokottendasein führen, dem es meistens auch an sonstigen Ähn¬ lichkeiten nicht fehlt. Dann Verschiebungen und Hemmungen der natürlichen Liebeswahl durch Irrwege der Erziehung, die das junge Mädchen vielfach garnicht fähig machen, eine echte individuelle Liebeswahl zu treffen, die es dann plötzlich in die Ehe werfen, wobei ihm nachher erst die Augen auf¬ gehen, wie es seiner Natur nach hätte wählen sollen. Wer in unser Leben ernst hineinschaut, ohne sich durch Worte täuschen zu lassen, der sieht solche und verwandte Züge die Menge, die das Wort Ehe nur sehr schlecht übertüncht, auf denen allen aber der Fluch des Prostitutionswesens tausendfach ruht.
Doch es giebt da noch eine zweite und viel interessantere Linie, die auch bei jenen freien Flötenhausmädchen im Urwalde anknüpft.
Jene soziale Liebesform, die über die Ehe hinweg springt, braucht ja die Schäden der Prostitution nicht zu umschließen. Das Flötenhausmädchen könnte so gut seine Kinder kriegen wie die Ehefrau, -- wie das denn bei den Bakairis auch wirklich der Fall zu sein scheint. Auch das Flötenhausmädchen brauchte sich nicht wahllos und zwangsweise jedem Manne hinzugeben, der es haben will, es könnte eine gewisse Wahlfreiheit sich wahren trotz der größten Liberalität im Verstreuen seiner Liebes¬ gaben an viele verschiedene Männer. Und es brauchte, an diesen Stellen logisch geschützt, keineswegs der allgemeinen moralischen Verachtung zu unterliegen, -- wieder ein Punkt, der schon bei den Bakairis wirklich erfüllt scheint.
durch die Menſchheit ruhig fallen. Wirf auch alles nach, was bloß daran anklingt. Es iſt deſſen auch in unſerer Kultur ja mehr, als man gemeiniglich Wort haben will. Ich denke an Proſtitutionszüge mitten in unſeren Ehen. Frauen, die aus offen erklärtem Leichtſinn, aus den Bequemlichkeiten der Welt¬ dame heraus auch in der Ehe überhaupt keine Kinder mehr haben wollen und in dieſem Punkt mitten in der ſchirmenden Geſellſchaftsform der Ehe ein mehr oder minder verblümtes Kokottendaſein führen, dem es meiſtens auch an ſonſtigen Ähn¬ lichkeiten nicht fehlt. Dann Verſchiebungen und Hemmungen der natürlichen Liebeswahl durch Irrwege der Erziehung, die das junge Mädchen vielfach garnicht fähig machen, eine echte individuelle Liebeswahl zu treffen, die es dann plötzlich in die Ehe werfen, wobei ihm nachher erſt die Augen auf¬ gehen, wie es ſeiner Natur nach hätte wählen ſollen. Wer in unſer Leben ernſt hineinſchaut, ohne ſich durch Worte täuſchen zu laſſen, der ſieht ſolche und verwandte Züge die Menge, die das Wort Ehe nur ſehr ſchlecht übertüncht, auf denen allen aber der Fluch des Proſtitutionsweſens tauſendfach ruht.
Doch es giebt da noch eine zweite und viel intereſſantere Linie, die auch bei jenen freien Flötenhausmädchen im Urwalde anknüpft.
Jene ſoziale Liebesform, die über die Ehe hinweg ſpringt, braucht ja die Schäden der Proſtitution nicht zu umſchließen. Das Flötenhausmädchen könnte ſo gut ſeine Kinder kriegen wie die Ehefrau, — wie das denn bei den Bakaïris auch wirklich der Fall zu ſein ſcheint. Auch das Flötenhausmädchen brauchte ſich nicht wahllos und zwangsweiſe jedem Manne hinzugeben, der es haben will, es könnte eine gewiſſe Wahlfreiheit ſich wahren trotz der größten Liberalität im Verſtreuen ſeiner Liebes¬ gaben an viele verſchiedene Männer. Und es brauchte, an dieſen Stellen logiſch geſchützt, keineswegs der allgemeinen moraliſchen Verachtung zu unterliegen, — wieder ein Punkt, der ſchon bei den Bakairis wirklich erfüllt ſcheint.
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durch die Menſchheit ruhig fallen. Wirf auch alles nach, was
bloß daran anklingt. Es iſt deſſen auch in unſerer Kultur
ja mehr, als man gemeiniglich Wort haben will. Ich denke
an Proſtitutionszüge mitten in unſeren Ehen. Frauen, die aus
offen erklärtem Leichtſinn, aus den Bequemlichkeiten der Welt¬
dame heraus auch in der Ehe überhaupt keine Kinder mehr
haben wollen und in dieſem Punkt mitten in der ſchirmenden
Geſellſchaftsform der Ehe ein mehr oder minder verblümtes
Kokottendaſein führen, dem es meiſtens auch an ſonſtigen Ähn¬
lichkeiten nicht fehlt. Dann Verſchiebungen und Hemmungen
der natürlichen Liebeswahl durch Irrwege der Erziehung,
die das junge Mädchen vielfach garnicht fähig machen, eine
echte individuelle Liebeswahl zu treffen, die es dann plötzlich
in die Ehe werfen, wobei ihm nachher erſt die Augen auf¬
gehen, wie es ſeiner Natur nach hätte wählen ſollen. Wer
in unſer Leben ernſt hineinſchaut, ohne ſich durch Worte täuſchen
zu laſſen, der ſieht ſolche und verwandte Züge die Menge, die
das Wort Ehe nur ſehr ſchlecht übertüncht, auf denen allen
aber der Fluch des Proſtitutionsweſens tauſendfach ruht.
Doch es giebt da noch eine zweite und viel intereſſantere
Linie, die auch bei jenen freien Flötenhausmädchen im Urwalde
anknüpft.
Jene ſoziale Liebesform, die über die Ehe hinweg ſpringt,
braucht ja die Schäden der Proſtitution nicht zu umſchließen.
Das Flötenhausmädchen könnte ſo gut ſeine Kinder kriegen wie
die Ehefrau, — wie das denn bei den Bakaïris auch wirklich
der Fall zu ſein ſcheint. Auch das Flötenhausmädchen brauchte
ſich nicht wahllos und zwangsweiſe jedem Manne hinzugeben,
der es haben will, es könnte eine gewiſſe Wahlfreiheit ſich
wahren trotz der größten Liberalität im Verſtreuen ſeiner Liebes¬
gaben an viele verſchiedene Männer. Und es brauchte, an
dieſen Stellen logiſch geſchützt, keineswegs der allgemeinen
moraliſchen Verachtung zu unterliegen, — wieder ein Punkt,
der ſchon bei den Bakairis wirklich erfüllt ſcheint.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/279>, abgerufen am 25.11.2024.
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