Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

Steinböcke auf. Hier eine von über hundert Stück: sämtlich
Böcke. Sie sind wetterfest, turnen ins wildeste Schneegebiet
hinauf. Etwas tiefer -- und du stößt auf eine zweite Herde,
nicht viel kleiner: diesmal sind's aber ausgespart lauter Ziegen,
lauter Weiber.

Der Männerklub ist verwegener als das Weiberkränzchen,
Vorteile vom Sozialleben haben sie aber beide. Und zwar
besteht der größte für Bruderschaft und Frauenverband darin,
daß jede Schaar an ihrer Spitze ein "Leittier" hat. Es ist
das schlaueste Tier der Herde. Bei den Böcken ist's ganz
naturgemäß ein alter, grundverschlagener Bock. Bei den Ziegen
ist es die ehrwürdigste, alterprobteste Geis. Unbegrenzt ist
besonders bei den ängstlichen Ziegen das Vertrauen der ganzen
Genossenschaft auf diese Verstandespräsidentin. Das Leittier
geht stets der Genossenschaft voran, äugt, wittert, probt den
Boden, giebt Signale, bald ermunternde, bald warnende als
grellen Pfiff, kurz erweist sich als unschätzbare Hilfe. Wo es
allein nicht langt, werden auch wohl mehrere andere Genossen
noch nach verschiedenen Richtungen als Wachen ausgestellt.
Immer aber schlingt sich ein Band der Sicherheit, der Ruhe
auf Grund dieser Dinge um das ganze Volk: das Einzelauge,
Einzelgehör hat sich erhoben zum Gesellschaftsauge, Gesellschafts¬
ohr. Und das alles ohne Eros, ja ausgesprochen für die Zeit
des Verzichts auf ihn, -- für die Zeit, da Mann und Weib sich
fremd sind, als handle es sich um verschiedene, feindliche Arten.

Im Großen und Ganzen ist, wie erklärlich, das Bedürfnis
nach solchen Verbänden immer größer bei den Weibern. Bei
einer ganzen Menge von Wiederkäuern ist die Männerherde
nur ganz lose oder gar nicht konstituirt, die Frauen dagegen
haben Trupp und Äbtissin. So ist es bei unserer lieben
deutschen Antilope, der Gemse. Bald streifen hier die Böcke
in der Nichtbrunstzeit ganz allein, bald wieder einmal zu zweien
oder dreien, aber stets in ganz zwanglosem Bund. Die Geisen
dagegen mit ihrem Nachwuchs bilden regelrechte Rudel von

Steinböcke auf. Hier eine von über hundert Stück: ſämtlich
Böcke. Sie ſind wetterfeſt, turnen ins wildeſte Schneegebiet
hinauf. Etwas tiefer — und du ſtößt auf eine zweite Herde,
nicht viel kleiner: diesmal ſind's aber ausgeſpart lauter Ziegen,
lauter Weiber.

Der Männerklub iſt verwegener als das Weiberkränzchen,
Vorteile vom Sozialleben haben ſie aber beide. Und zwar
beſteht der größte für Bruderſchaft und Frauenverband darin,
daß jede Schaar an ihrer Spitze ein „Leittier“ hat. Es iſt
das ſchlaueſte Tier der Herde. Bei den Böcken iſt's ganz
naturgemäß ein alter, grundverſchlagener Bock. Bei den Ziegen
iſt es die ehrwürdigſte, alterprobteſte Geis. Unbegrenzt iſt
beſonders bei den ängſtlichen Ziegen das Vertrauen der ganzen
Genoſſenſchaft auf dieſe Verſtandespräſidentin. Das Leittier
geht ſtets der Genoſſenſchaft voran, äugt, wittert, probt den
Boden, giebt Signale, bald ermunternde, bald warnende als
grellen Pfiff, kurz erweiſt ſich als unſchätzbare Hilfe. Wo es
allein nicht langt, werden auch wohl mehrere andere Genoſſen
noch nach verſchiedenen Richtungen als Wachen ausgeſtellt.
Immer aber ſchlingt ſich ein Band der Sicherheit, der Ruhe
auf Grund dieſer Dinge um das ganze Volk: das Einzelauge,
Einzelgehör hat ſich erhoben zum Geſellſchaftsauge, Geſellſchafts¬
ohr. Und das alles ohne Eros, ja ausgeſprochen für die Zeit
des Verzichts auf ihn, — für die Zeit, da Mann und Weib ſich
fremd ſind, als handle es ſich um verſchiedene, feindliche Arten.

Im Großen und Ganzen iſt, wie erklärlich, das Bedürfnis
nach ſolchen Verbänden immer größer bei den Weibern. Bei
einer ganzen Menge von Wiederkäuern iſt die Männerherde
nur ganz loſe oder gar nicht konſtituirt, die Frauen dagegen
haben Trupp und Äbtiſſin. So iſt es bei unſerer lieben
deutſchen Antilope, der Gemſe. Bald ſtreifen hier die Böcke
in der Nichtbrunſtzeit ganz allein, bald wieder einmal zu zweien
oder dreien, aber ſtets in ganz zwangloſem Bund. Die Geiſen
dagegen mit ihrem Nachwuchs bilden regelrechte Rudel von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0205" n="191"/>
Steinböcke auf. Hier eine von über hundert Stück: &#x017F;ämtlich<lb/>
Böcke. Sie &#x017F;ind wetterfe&#x017F;t, turnen ins wilde&#x017F;te Schneegebiet<lb/>
hinauf. Etwas tiefer &#x2014; und du &#x017F;tößt <choice><sic>anf</sic><corr>auf</corr></choice> eine zweite Herde,<lb/>
nicht viel kleiner: diesmal &#x017F;ind's aber ausge&#x017F;part lauter Ziegen,<lb/>
lauter Weiber.</p><lb/>
        <p>Der Männerklub i&#x017F;t verwegener als das Weiberkränzchen,<lb/>
Vorteile vom Sozialleben haben &#x017F;ie aber beide. Und zwar<lb/>
be&#x017F;teht der größte für Bruder&#x017F;chaft und Frauenverband darin,<lb/>
daß jede Schaar an ihrer Spitze ein &#x201E;Leittier&#x201C; hat. Es i&#x017F;t<lb/>
das &#x017F;chlaue&#x017F;te Tier der Herde. Bei den Böcken i&#x017F;t's ganz<lb/>
naturgemäß ein alter, grundver&#x017F;chlagener Bock. Bei den Ziegen<lb/>
i&#x017F;t es die ehrwürdig&#x017F;te, alterprobte&#x017F;te Geis. Unbegrenzt i&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;onders bei den äng&#x017F;tlichen Ziegen das Vertrauen der ganzen<lb/>
Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft auf die&#x017F;e Ver&#x017F;tandesprä&#x017F;identin. Das Leittier<lb/>
geht &#x017F;tets der Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft voran, äugt, wittert, probt den<lb/>
Boden, giebt Signale, bald ermunternde, bald warnende als<lb/>
grellen Pfiff, kurz erwei&#x017F;t &#x017F;ich als un&#x017F;chätzbare Hilfe. Wo es<lb/>
allein nicht langt, werden auch wohl mehrere andere Geno&#x017F;&#x017F;en<lb/>
noch nach ver&#x017F;chiedenen Richtungen als Wachen ausge&#x017F;tellt.<lb/>
Immer aber &#x017F;chlingt &#x017F;ich ein Band der Sicherheit, der Ruhe<lb/>
auf Grund die&#x017F;er Dinge um das ganze Volk: das Einzelauge,<lb/>
Einzelgehör hat &#x017F;ich erhoben zum Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsauge, Ge&#x017F;ell&#x017F;chafts¬<lb/>
ohr. Und das alles ohne Eros, ja ausge&#x017F;prochen für die Zeit<lb/>
des Verzichts auf ihn, &#x2014; für die Zeit, da Mann und Weib &#x017F;ich<lb/>
fremd &#x017F;ind, als handle es &#x017F;ich um ver&#x017F;chiedene, feindliche Arten.</p><lb/>
        <p>Im Großen und Ganzen i&#x017F;t, wie erklärlich, das Bedürfnis<lb/>
nach &#x017F;olchen Verbänden immer größer bei den Weibern. Bei<lb/>
einer ganzen Menge von Wiederkäuern i&#x017F;t die Männerherde<lb/>
nur ganz lo&#x017F;e oder gar nicht kon&#x017F;tituirt, die Frauen dagegen<lb/>
haben Trupp und Äbti&#x017F;&#x017F;in. So i&#x017F;t es bei un&#x017F;erer lieben<lb/>
deut&#x017F;chen Antilope, der Gem&#x017F;e. Bald &#x017F;treifen hier die Böcke<lb/>
in der Nichtbrun&#x017F;tzeit ganz allein, bald wieder einmal zu zweien<lb/>
oder dreien, aber &#x017F;tets in ganz zwanglo&#x017F;em Bund. Die Gei&#x017F;en<lb/>
dagegen mit ihrem Nachwuchs bilden regelrechte Rudel von<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0205] Steinböcke auf. Hier eine von über hundert Stück: ſämtlich Böcke. Sie ſind wetterfeſt, turnen ins wildeſte Schneegebiet hinauf. Etwas tiefer — und du ſtößt auf eine zweite Herde, nicht viel kleiner: diesmal ſind's aber ausgeſpart lauter Ziegen, lauter Weiber. Der Männerklub iſt verwegener als das Weiberkränzchen, Vorteile vom Sozialleben haben ſie aber beide. Und zwar beſteht der größte für Bruderſchaft und Frauenverband darin, daß jede Schaar an ihrer Spitze ein „Leittier“ hat. Es iſt das ſchlaueſte Tier der Herde. Bei den Böcken iſt's ganz naturgemäß ein alter, grundverſchlagener Bock. Bei den Ziegen iſt es die ehrwürdigſte, alterprobteſte Geis. Unbegrenzt iſt beſonders bei den ängſtlichen Ziegen das Vertrauen der ganzen Genoſſenſchaft auf dieſe Verſtandespräſidentin. Das Leittier geht ſtets der Genoſſenſchaft voran, äugt, wittert, probt den Boden, giebt Signale, bald ermunternde, bald warnende als grellen Pfiff, kurz erweiſt ſich als unſchätzbare Hilfe. Wo es allein nicht langt, werden auch wohl mehrere andere Genoſſen noch nach verſchiedenen Richtungen als Wachen ausgeſtellt. Immer aber ſchlingt ſich ein Band der Sicherheit, der Ruhe auf Grund dieſer Dinge um das ganze Volk: das Einzelauge, Einzelgehör hat ſich erhoben zum Geſellſchaftsauge, Geſellſchafts¬ ohr. Und das alles ohne Eros, ja ausgeſprochen für die Zeit des Verzichts auf ihn, — für die Zeit, da Mann und Weib ſich fremd ſind, als handle es ſich um verſchiedene, feindliche Arten. Im Großen und Ganzen iſt, wie erklärlich, das Bedürfnis nach ſolchen Verbänden immer größer bei den Weibern. Bei einer ganzen Menge von Wiederkäuern iſt die Männerherde nur ganz loſe oder gar nicht konſtituirt, die Frauen dagegen haben Trupp und Äbtiſſin. So iſt es bei unſerer lieben deutſchen Antilope, der Gemſe. Bald ſtreifen hier die Böcke in der Nichtbrunſtzeit ganz allein, bald wieder einmal zu zweien oder dreien, aber ſtets in ganz zwangloſem Bund. Die Geiſen dagegen mit ihrem Nachwuchs bilden regelrechte Rudel von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/205
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/205>, abgerufen am 27.11.2024.