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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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geiste glaubst. Glaubst du nicht daran, nicht also an einen
unaufhaltsamen Aufstieg im "Menschlichsten" des Menschen, so
ist es ja schließlich auch einerlei, ob die Menschheit degeneriert.

Findet aber dieser Anstieg statt, so muß auch endlich der
Punkt in ihm liegen, wo der Mensch aus sittlicher Herrschaft
über sich selbst, aus sittlicher Harmonie in sich selbst, das
wieder bewußt erringt, was der nackte Wilde in seiner naiven
Phantasie doch bereits einmal gekonnt hat. Er muß die
Fähigkeit in sich fühlen, kraft unbeirrbaren Entschlusses, un¬
erschütterlicher Selbstsetzung den nackten Körper des anderen
Geschlechts in einem unerotischen Zusammenhang auch unerotisch
anschauen zu können. Das Symbol, das die Phantasie des
Wilden noch braucht, kann er dabei entbehren, denn es liegt
für sein geistiges Erfassen eben in dem ganzen geistigen Zu¬
sammenhang der Dinge.

Daß eine solche völlig unschuldige Auffassung möglich
ist von einem verfeinerten Kulturstandpunkte aus, zeigt am
deutlichsten eben das Beispiel der Kunst. Seit es große Kunst
in unserem Sinne überhaupt giebt, hat sie den Menschen auch
dazu zu erziehen versucht, Dinge anzuschauen auf ihre Ideal¬
schönheit hin ohne unmittelbares Begehren, -- einen absolut
nackten Mann, ein absolut nacktes Weib ohne akute erotische
Erregung. Diesen Unschuldszauber hat der große Künstler
ausgegossen über den Laien, wofern dessen geistige Bildung
nur eine gewisse Empfängnisreife besaß. Künstler selber aber
haben es schon viel weiter gebracht. Im Banne des reinen,
von allem anderen Begehren losgelösten Kunstwollens haben
sie mit Ruhe das wirkliche nackte Modell anschauen und ab¬
bilden können, also nicht bloß Marmor, sondern warmen
nackten Menschenleib.

Eine verwandte Linie kommt von der reinen Wissenschaft
herauf. Auch sie lehrt einen Standpunkt jenseits des Be¬
gehrens, eine Betrachtung sub specie aeterni, -- wie dort im
Anblick des geheimnisvoll schon realisierten, aber doch mit

geiſte glaubſt. Glaubſt du nicht daran, nicht alſo an einen
unaufhaltſamen Aufſtieg im „Menſchlichſten“ des Menſchen, ſo
iſt es ja ſchließlich auch einerlei, ob die Menſchheit degeneriert.

Findet aber dieſer Anſtieg ſtatt, ſo muß auch endlich der
Punkt in ihm liegen, wo der Menſch aus ſittlicher Herrſchaft
über ſich ſelbſt, aus ſittlicher Harmonie in ſich ſelbſt, das
wieder bewußt erringt, was der nackte Wilde in ſeiner naiven
Phantaſie doch bereits einmal gekonnt hat. Er muß die
Fähigkeit in ſich fühlen, kraft unbeirrbaren Entſchluſſes, un¬
erſchütterlicher Selbſtſetzung den nackten Körper des anderen
Geſchlechts in einem unerotiſchen Zuſammenhang auch unerotiſch
anſchauen zu können. Das Symbol, das die Phantaſie des
Wilden noch braucht, kann er dabei entbehren, denn es liegt
für ſein geiſtiges Erfaſſen eben in dem ganzen geiſtigen Zu¬
ſammenhang der Dinge.

Daß eine ſolche völlig unſchuldige Auffaſſung möglich
iſt von einem verfeinerten Kulturſtandpunkte aus, zeigt am
deutlichſten eben das Beiſpiel der Kunſt. Seit es große Kunſt
in unſerem Sinne überhaupt giebt, hat ſie den Menſchen auch
dazu zu erziehen verſucht, Dinge anzuſchauen auf ihre Ideal¬
ſchönheit hin ohne unmittelbares Begehren, — einen abſolut
nackten Mann, ein abſolut nacktes Weib ohne akute erotiſche
Erregung. Dieſen Unſchuldszauber hat der große Künſtler
ausgegoſſen über den Laien, wofern deſſen geiſtige Bildung
nur eine gewiſſe Empfängnisreife beſaß. Künſtler ſelber aber
haben es ſchon viel weiter gebracht. Im Banne des reinen,
von allem anderen Begehren losgelöſten Kunſtwollens haben
ſie mit Ruhe das wirkliche nackte Modell anſchauen und ab¬
bilden können, alſo nicht bloß Marmor, ſondern warmen
nackten Menſchenleib.

Eine verwandte Linie kommt von der reinen Wiſſenſchaft
herauf. Auch ſie lehrt einen Standpunkt jenſeits des Be¬
gehrens, eine Betrachtung sub specie aeterni, — wie dort im
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[141/0155] geiſte glaubſt. Glaubſt du nicht daran, nicht alſo an einen unaufhaltſamen Aufſtieg im „Menſchlichſten“ des Menſchen, ſo iſt es ja ſchließlich auch einerlei, ob die Menſchheit degeneriert. Findet aber dieſer Anſtieg ſtatt, ſo muß auch endlich der Punkt in ihm liegen, wo der Menſch aus ſittlicher Herrſchaft über ſich ſelbſt, aus ſittlicher Harmonie in ſich ſelbſt, das wieder bewußt erringt, was der nackte Wilde in ſeiner naiven Phantaſie doch bereits einmal gekonnt hat. Er muß die Fähigkeit in ſich fühlen, kraft unbeirrbaren Entſchluſſes, un¬ erſchütterlicher Selbſtſetzung den nackten Körper des anderen Geſchlechts in einem unerotiſchen Zuſammenhang auch unerotiſch anſchauen zu können. Das Symbol, das die Phantaſie des Wilden noch braucht, kann er dabei entbehren, denn es liegt für ſein geiſtiges Erfaſſen eben in dem ganzen geiſtigen Zu¬ ſammenhang der Dinge. Daß eine ſolche völlig unſchuldige Auffaſſung möglich iſt von einem verfeinerten Kulturſtandpunkte aus, zeigt am deutlichſten eben das Beiſpiel der Kunſt. Seit es große Kunſt in unſerem Sinne überhaupt giebt, hat ſie den Menſchen auch dazu zu erziehen verſucht, Dinge anzuſchauen auf ihre Ideal¬ ſchönheit hin ohne unmittelbares Begehren, — einen abſolut nackten Mann, ein abſolut nacktes Weib ohne akute erotiſche Erregung. Dieſen Unſchuldszauber hat der große Künſtler ausgegoſſen über den Laien, wofern deſſen geiſtige Bildung nur eine gewiſſe Empfängnisreife beſaß. Künſtler ſelber aber haben es ſchon viel weiter gebracht. Im Banne des reinen, von allem anderen Begehren losgelöſten Kunſtwollens haben ſie mit Ruhe das wirkliche nackte Modell anſchauen und ab¬ bilden können, alſo nicht bloß Marmor, ſondern warmen nackten Menſchenleib. Eine verwandte Linie kommt von der reinen Wiſſenſchaft herauf. Auch ſie lehrt einen Standpunkt jenſeits des Be¬ gehrens, eine Betrachtung sub specie aeterni, — wie dort im Anblick des geheimnisvoll ſchon realiſierten, aber doch mit

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/155>, abgerufen am 23.11.2024.