beim Baden. Es ist das ein Beweis, daß wir innerlich eigent¬ lich stärker sind, als wir uns für gewöhnlich halten.
Ich glaube, daß wir sehr gut von da wieder zu einem erst geschichtlich spät verlorenen Besitz übergehen könnten: zum nackten Turnen. Wenn das in ganz jungen, erotisch überhaupt noch indifferenten Jahren anfinge, könnte es uns sehr gut vor dem Schreckbilde bewahren, das heute eine Badeanstalt mit Erwachsenen so vielfältig bietet: einer Menagerie der ver¬ unstaltetsten, vernachlässigsten, der denkbar schlechtest gehaltenen, gekrümmten, vermagerten oder verfetteten Körper. Würde von früh an wenigstens auf dem Turnboden der eine den andern sehen, jede Veränderung seines Nacktkörpers kritisieren, würde vor allem jeder sich selbst und an so und so viel anderen gleichzeitig das Schönheits- und Gesundheitsideal regelmäßig schauen, so wäre ganz von selbst ein großer Fortschritt bald da, der uns viel Doktorkosten sparte und die Rasse durch Selbstkritik und Kritik durch andere vom gleichen Geschlecht vorwärts brächte, -- anstatt daß wir jetzt auf dem Wege sind, nur noch Köpfe zu entwickeln mit degenerierten Leibern. Die Atlantosaurier vor Millionen von Jahren sind auf dem umge¬ kehrten Gipfel untergegangen: sie bekamen schließlich Leiber wie die wandelnden Berge und ein Köpfchen daran wie eine Schwanzspitze, in dem ein Gehirn wie ein Sandkorn saß!
Erst wenn getrennte nackte Gymnastik bei beiden Ge¬ schlechtern unsern Blick allgemein mehr und mehr wieder "un¬ schuldig" der Nacktheit gegenüber gemacht haben wird -- und diese Stufe werden wir sicher in absehbarer Zeit einfach im Zwang der Dinge erreichen, -- erst dann läßt sich das Problem enger stellen, ob auch bei beiden Geschlechtern gemeinsam unter Umständen wenigstens sehr viel mehr fallen könnte, als heute die Schutzmoral für nötig hält.
Die Lösung hängt von der Antwort auf die viel tiefere Frage ab: ob du an eine fortschreitende Kräftigung der sitt¬ lichen Gefühle, der inneren sittlichen Harmonie im Menschen¬
beim Baden. Es iſt das ein Beweis, daß wir innerlich eigent¬ lich ſtärker ſind, als wir uns für gewöhnlich halten.
Ich glaube, daß wir ſehr gut von da wieder zu einem erſt geſchichtlich ſpät verlorenen Beſitz übergehen könnten: zum nackten Turnen. Wenn das in ganz jungen, erotiſch überhaupt noch indifferenten Jahren anfinge, könnte es uns ſehr gut vor dem Schreckbilde bewahren, das heute eine Badeanſtalt mit Erwachſenen ſo vielfältig bietet: einer Menagerie der ver¬ unſtaltetſten, vernachläſſigſten, der denkbar ſchlechteſt gehaltenen, gekrümmten, vermagerten oder verfetteten Körper. Würde von früh an wenigſtens auf dem Turnboden der eine den andern ſehen, jede Veränderung ſeines Nacktkörpers kritiſieren, würde vor allem jeder ſich ſelbſt und an ſo und ſo viel anderen gleichzeitig das Schönheits- und Geſundheitsideal regelmäßig ſchauen, ſo wäre ganz von ſelbſt ein großer Fortſchritt bald da, der uns viel Doktorkoſten ſparte und die Raſſe durch Selbſtkritik und Kritik durch andere vom gleichen Geſchlecht vorwärts brächte, — anſtatt daß wir jetzt auf dem Wege ſind, nur noch Köpfe zu entwickeln mit degenerierten Leibern. Die Atlantoſaurier vor Millionen von Jahren ſind auf dem umge¬ kehrten Gipfel untergegangen: ſie bekamen ſchließlich Leiber wie die wandelnden Berge und ein Köpfchen daran wie eine Schwanzſpitze, in dem ein Gehirn wie ein Sandkorn ſaß!
Erſt wenn getrennte nackte Gymnaſtik bei beiden Ge¬ ſchlechtern unſern Blick allgemein mehr und mehr wieder „un¬ ſchuldig“ der Nacktheit gegenüber gemacht haben wird — und dieſe Stufe werden wir ſicher in abſehbarer Zeit einfach im Zwang der Dinge erreichen, — erſt dann läßt ſich das Problem enger ſtellen, ob auch bei beiden Geſchlechtern gemeinſam unter Umſtänden wenigſtens ſehr viel mehr fallen könnte, als heute die Schutzmoral für nötig hält.
Die Löſung hängt von der Antwort auf die viel tiefere Frage ab: ob du an eine fortſchreitende Kräftigung der ſitt¬ lichen Gefühle, der inneren ſittlichen Harmonie im Menſchen¬
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beim Baden. Es iſt das ein Beweis, daß wir innerlich eigent¬
lich ſtärker ſind, als wir uns für gewöhnlich halten.
Ich glaube, daß wir ſehr gut von da wieder zu einem
erſt geſchichtlich ſpät verlorenen Beſitz übergehen könnten: zum
nackten Turnen. Wenn das in ganz jungen, erotiſch überhaupt
noch indifferenten Jahren anfinge, könnte es uns ſehr gut vor
dem Schreckbilde bewahren, das heute eine Badeanſtalt mit
Erwachſenen ſo vielfältig bietet: einer Menagerie der ver¬
unſtaltetſten, vernachläſſigſten, der denkbar ſchlechteſt gehaltenen,
gekrümmten, vermagerten oder verfetteten Körper. Würde von
früh an wenigſtens auf dem Turnboden der eine den andern
ſehen, jede Veränderung ſeines Nacktkörpers kritiſieren, würde
vor allem jeder ſich ſelbſt und an ſo und ſo viel anderen
gleichzeitig das Schönheits- und Geſundheitsideal regelmäßig
ſchauen, ſo wäre ganz von ſelbſt ein großer Fortſchritt bald
da, der uns viel Doktorkoſten ſparte und die Raſſe durch
Selbſtkritik und Kritik durch andere vom gleichen Geſchlecht
vorwärts brächte, — anſtatt daß wir jetzt auf dem Wege ſind,
nur noch Köpfe zu entwickeln mit degenerierten Leibern. Die
Atlantoſaurier vor Millionen von Jahren ſind auf dem umge¬
kehrten Gipfel untergegangen: ſie bekamen ſchließlich Leiber
wie die wandelnden Berge und ein Köpfchen daran wie eine
Schwanzſpitze, in dem ein Gehirn wie ein Sandkorn ſaß!
Erſt wenn getrennte nackte Gymnaſtik bei beiden Ge¬
ſchlechtern unſern Blick allgemein mehr und mehr wieder „un¬
ſchuldig“ der Nacktheit gegenüber gemacht haben wird — und
dieſe Stufe werden wir ſicher in abſehbarer Zeit einfach im
Zwang der Dinge erreichen, — erſt dann läßt ſich das Problem
enger ſtellen, ob auch bei beiden Geſchlechtern gemeinſam unter
Umſtänden wenigſtens ſehr viel mehr fallen könnte, als heute
die Schutzmoral für nötig hält.
Die Löſung hängt von der Antwort auf die viel tiefere
Frage ab: ob du an eine fortſchreitende Kräftigung der ſitt¬
lichen Gefühle, der inneren ſittlichen Harmonie im Menſchen¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/154>, abgerufen am 23.11.2024.
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