Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Frage war nur, wo das Halt machen sollte. Denn
nachdem einmal der nackte Mensch der erotische gewesen war,
hatte eigentlich alles nackt Gewordene irgendwo und irgendwie
einen erotischen Beigeschmack. Du hast schon gesehen, wie
selbst das Symbol herumrutschte: vom Geschlechtsthor auf den
Nabel, ja auf die Kehrseite. Und alle diese Orte siehst du
auch wirklich in die Schambewegung auf dem Stadium der
Bedeckung alsbald mit hineingerissen. Dann wird die Weiber¬
brust wichtig, als eine in der That auch eminent erotisch
mahnende, lockende Gegend, -- sie wird bedeckt. Und so siehst
du die Hülle aus "Schamgründen," diese schon realistischere
Bedeckungshülle, um den nackten Menschen wieder Stück für
Stück herumwachsen wie einen neuen Tierpelz.

Nun mußt du dir aber Hilfsmotive dabei noch ausmalen.
Der Kulturmensch ist auch daheim heute bekleidet nicht bloß
aus erotischen Gründen. Die Eiszeit wich eines Tages und
lieferte ihn der gemäßigten Zone aus. Die grellen Kontraste
der Eskimopelzvermummung draußen und der Eskimonacktheit
drinnen verloren sich in ihrer Schärfe. Das mittlere Klima
drängte auf ein Mittelstadium auch der Kleiderbehandlung.
Im Norden siehst du noch länger schärfere Kontraste: der alte
Germane zum Beispiel zieht noch nackt in die Schlacht. Je
höher die Kultur aber sprießt, desto mehr drängt sich das
ganz Nackte überhaupt im Alltagsleben in den Hintergrund
auch aus rein praktischen Gründen dieses Alltagslebens, die
mit Scham nichts zu thun haben.

Je mehr es aber so wie so geschieht, je seltener das
Nackte der meisten Körperteile in nicht erotischen Lagen öffent¬
lich gesehen wird, desto schärfer wird diese seltene Nacktheit
mit dem Erotischen identifiziert und, da dieses Erotische denn
einmal im gewöhnlichen Leben unsichtbar gemacht werden soll,
als erotisch auch aus Schamgründen jetzt öffentlich verhüllt
werden, selbst wo es jene direkten Gründe nicht verlangten.

Der Gipfel ist, daß "nackt" und "erotisch" schließlich

Die Frage war nur, wo das Halt machen ſollte. Denn
nachdem einmal der nackte Menſch der erotiſche geweſen war,
hatte eigentlich alles nackt Gewordene irgendwo und irgendwie
einen erotiſchen Beigeſchmack. Du haſt ſchon geſehen, wie
ſelbſt das Symbol herumrutſchte: vom Geſchlechtsthor auf den
Nabel, ja auf die Kehrſeite. Und alle dieſe Orte ſiehſt du
auch wirklich in die Schambewegung auf dem Stadium der
Bedeckung alsbald mit hineingeriſſen. Dann wird die Weiber¬
bruſt wichtig, als eine in der That auch eminent erotiſch
mahnende, lockende Gegend, — ſie wird bedeckt. Und ſo ſiehſt
du die Hülle aus „Schamgründen,“ dieſe ſchon realiſtiſchere
Bedeckungshülle, um den nackten Menſchen wieder Stück für
Stück herumwachſen wie einen neuen Tierpelz.

Nun mußt du dir aber Hilfsmotive dabei noch ausmalen.
Der Kulturmenſch iſt auch daheim heute bekleidet nicht bloß
aus erotiſchen Gründen. Die Eiszeit wich eines Tages und
lieferte ihn der gemäßigten Zone aus. Die grellen Kontraſte
der Eskimopelzvermummung draußen und der Eskimonacktheit
drinnen verloren ſich in ihrer Schärfe. Das mittlere Klima
drängte auf ein Mittelſtadium auch der Kleiderbehandlung.
Im Norden ſiehſt du noch länger ſchärfere Kontraſte: der alte
Germane zum Beiſpiel zieht noch nackt in die Schlacht. Je
höher die Kultur aber ſprießt, deſto mehr drängt ſich das
ganz Nackte überhaupt im Alltagsleben in den Hintergrund
auch aus rein praktiſchen Gründen dieſes Alltagslebens, die
mit Scham nichts zu thun haben.

Je mehr es aber ſo wie ſo geſchieht, je ſeltener das
Nackte der meiſten Körperteile in nicht erotiſchen Lagen öffent¬
lich geſehen wird, deſto ſchärfer wird dieſe ſeltene Nacktheit
mit dem Erotiſchen identifiziert und, da dieſes Erotiſche denn
einmal im gewöhnlichen Leben unſichtbar gemacht werden ſoll,
als erotiſch auch aus Schamgründen jetzt öffentlich verhüllt
werden, ſelbſt wo es jene direkten Gründe nicht verlangten.

Der Gipfel iſt, daß „nackt“ und „erotiſch“ ſchließlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0144" n="130"/>
        <p>Die Frage war nur, wo das Halt machen &#x017F;ollte. Denn<lb/>
nachdem einmal der nackte Men&#x017F;ch der eroti&#x017F;che gewe&#x017F;en war,<lb/>
hatte eigentlich alles nackt Gewordene irgendwo und irgendwie<lb/>
einen eroti&#x017F;chen Beige&#x017F;chmack. Du ha&#x017F;t &#x017F;chon ge&#x017F;ehen, wie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t das Symbol herumrut&#x017F;chte: vom Ge&#x017F;chlechtsthor auf den<lb/>
Nabel, ja auf die Kehr&#x017F;eite. Und alle die&#x017F;e Orte &#x017F;ieh&#x017F;t du<lb/>
auch wirklich in die Schambewegung auf dem Stadium der<lb/>
Bedeckung alsbald mit hineingeri&#x017F;&#x017F;en. Dann wird die Weiber¬<lb/>
bru&#x017F;t wichtig, als eine in der That auch eminent eroti&#x017F;ch<lb/>
mahnende, lockende Gegend, &#x2014; &#x017F;ie wird bedeckt. Und &#x017F;o &#x017F;ieh&#x017F;t<lb/>
du die Hülle aus &#x201E;Schamgründen,&#x201C; die&#x017F;e &#x017F;chon reali&#x017F;ti&#x017F;chere<lb/>
Bedeckungshülle, um den nackten Men&#x017F;chen wieder Stück für<lb/>
Stück herumwach&#x017F;en wie einen neuen Tierpelz.</p><lb/>
        <p>Nun mußt du dir aber Hilfsmotive dabei noch ausmalen.<lb/>
Der Kulturmen&#x017F;ch i&#x017F;t auch daheim heute bekleidet nicht bloß<lb/>
aus eroti&#x017F;chen Gründen. Die Eiszeit wich eines Tages und<lb/>
lieferte ihn der gemäßigten Zone aus. Die grellen Kontra&#x017F;te<lb/>
der Eskimopelzvermummung draußen und der Eskimonacktheit<lb/>
drinnen verloren &#x017F;ich in ihrer Schärfe. Das mittlere Klima<lb/>
drängte auf ein Mittel&#x017F;tadium auch der Kleiderbehandlung.<lb/>
Im Norden &#x017F;ieh&#x017F;t du noch länger &#x017F;chärfere Kontra&#x017F;te: der alte<lb/>
Germane zum Bei&#x017F;piel zieht noch nackt in die Schlacht. Je<lb/>
höher die Kultur aber &#x017F;prießt, de&#x017F;to mehr drängt &#x017F;ich das<lb/>
ganz Nackte überhaupt im Alltagsleben in den Hintergrund<lb/>
auch aus rein prakti&#x017F;chen Gründen die&#x017F;es Alltagslebens, die<lb/>
mit Scham nichts zu thun haben.</p><lb/>
        <p>Je <hi rendition="#g">mehr</hi> es aber &#x017F;o wie &#x017F;o ge&#x017F;chieht, je &#x017F;eltener das<lb/>
Nackte der mei&#x017F;ten Körperteile in nicht eroti&#x017F;chen Lagen öffent¬<lb/>
lich ge&#x017F;ehen wird, de&#x017F;to <hi rendition="#g">&#x017F;chärfer</hi> wird die&#x017F;e &#x017F;eltene Nacktheit<lb/>
mit dem Eroti&#x017F;chen identifiziert und, da die&#x017F;es Eroti&#x017F;che denn<lb/>
einmal im gewöhnlichen Leben <hi rendition="#g">un&#x017F;ichtbar</hi> gemacht werden &#x017F;oll,<lb/>
als eroti&#x017F;ch auch aus Schamgründen jetzt öffentlich verhüllt<lb/>
werden, &#x017F;elb&#x017F;t wo es jene direkten Gründe nicht verlangten.</p><lb/>
        <p>Der Gipfel i&#x017F;t, daß &#x201E;nackt&#x201C; und &#x201E;eroti&#x017F;ch&#x201C; &#x017F;chließlich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0144] Die Frage war nur, wo das Halt machen ſollte. Denn nachdem einmal der nackte Menſch der erotiſche geweſen war, hatte eigentlich alles nackt Gewordene irgendwo und irgendwie einen erotiſchen Beigeſchmack. Du haſt ſchon geſehen, wie ſelbſt das Symbol herumrutſchte: vom Geſchlechtsthor auf den Nabel, ja auf die Kehrſeite. Und alle dieſe Orte ſiehſt du auch wirklich in die Schambewegung auf dem Stadium der Bedeckung alsbald mit hineingeriſſen. Dann wird die Weiber¬ bruſt wichtig, als eine in der That auch eminent erotiſch mahnende, lockende Gegend, — ſie wird bedeckt. Und ſo ſiehſt du die Hülle aus „Schamgründen,“ dieſe ſchon realiſtiſchere Bedeckungshülle, um den nackten Menſchen wieder Stück für Stück herumwachſen wie einen neuen Tierpelz. Nun mußt du dir aber Hilfsmotive dabei noch ausmalen. Der Kulturmenſch iſt auch daheim heute bekleidet nicht bloß aus erotiſchen Gründen. Die Eiszeit wich eines Tages und lieferte ihn der gemäßigten Zone aus. Die grellen Kontraſte der Eskimopelzvermummung draußen und der Eskimonacktheit drinnen verloren ſich in ihrer Schärfe. Das mittlere Klima drängte auf ein Mittelſtadium auch der Kleiderbehandlung. Im Norden ſiehſt du noch länger ſchärfere Kontraſte: der alte Germane zum Beiſpiel zieht noch nackt in die Schlacht. Je höher die Kultur aber ſprießt, deſto mehr drängt ſich das ganz Nackte überhaupt im Alltagsleben in den Hintergrund auch aus rein praktiſchen Gründen dieſes Alltagslebens, die mit Scham nichts zu thun haben. Je mehr es aber ſo wie ſo geſchieht, je ſeltener das Nackte der meiſten Körperteile in nicht erotiſchen Lagen öffent¬ lich geſehen wird, deſto ſchärfer wird dieſe ſeltene Nacktheit mit dem Erotiſchen identifiziert und, da dieſes Erotiſche denn einmal im gewöhnlichen Leben unſichtbar gemacht werden ſoll, als erotiſch auch aus Schamgründen jetzt öffentlich verhüllt werden, ſelbſt wo es jene direkten Gründe nicht verlangten. Der Gipfel iſt, daß „nackt“ und „erotiſch“ ſchließlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/144
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/144>, abgerufen am 24.11.2024.