form, die Keimform und Kinderform wiederholt noch einmal das Bild der Ahnen. Der junge Frosch atmet noch einmal mit Kiemen wie ein Fisch, schleppt einen Schwanz hinter sich her, wie ein Molch. Auch der ganz junge Vogel im Ei zeigt noch solche Kiemenspalten, seine Flügel und Beine ähneln zuerst Flossen. Der junge Walfisch entwickelt zuerst statt der Fischbein¬ barten regelrechte kleine Zähne wie seine Vorfahren sie hatten. Der kleine neugeborene Löwe ist noch tigerartig gestreift, die junge Wildsau, der kleine amerikanische Tapier verraten ein Streifen- und Fleckenkleid einer fremden Ahnenwelt. Der Bei¬ spiele giebt es zahllose.
Wenn im Jugendkleide Mann und Weib des Paradies¬ vogels heute gleich ausschauen, so ist es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß dieses Jugendkleid in Wahrheit das Ahnen¬ kleid ist. Einst sah das ganze Volk dieser Vögel Zeit seines Lebens so schlicht und ärmlich aus. Das Weib muß dann das dauernd konservative Element gewesen sein. Es blieb bis heute so. Der Mann aber warf eines Tages das Ahnenkleid mit dem mannbaren Alter ab und ersetzte es durch ein strahlendes Prachtgewand ganz neuer Art. Wie kam das? Das ist die Frage.
Darwin schließt weiter.
Sieh dir zuerst dieses schlichte Kleid des heutigen Weibchens einmal unter dem Gesichtspunkte an, daß es das ehemalige allgemeine Kleid der Ahnen war. Es ist, wenn nicht alles trügt, ein sogenanntes Anpassungskleid.
Ich denke, du weißt, im Umriß wenigstens, was das heißt. Der Kampf ums Dasein tobt in der Natur. Die Wesen ringen um ihr Leben. Starke, indem sie angreifen, Schwache, indem sie sich verbergen. Die Farbe ist ein Mittel in diesem Zwist. Sie verbirgt den Angreifer wie den Angegriffenen. Das Wüstentier auf gelbem Wüstenboden hat Vorteil, wenn es gelb ist, wie Löwe, Schakal, Wüstenfuchs, Sandviper und Sand¬ eidechse. Dem Polartier dient, wenn es weiß wie Schnee ist:
form, die Keimform und Kinderform wiederholt noch einmal das Bild der Ahnen. Der junge Froſch atmet noch einmal mit Kiemen wie ein Fiſch, ſchleppt einen Schwanz hinter ſich her, wie ein Molch. Auch der ganz junge Vogel im Ei zeigt noch ſolche Kiemenſpalten, ſeine Flügel und Beine ähneln zuerſt Floſſen. Der junge Walfiſch entwickelt zuerſt ſtatt der Fiſchbein¬ barten regelrechte kleine Zähne wie ſeine Vorfahren ſie hatten. Der kleine neugeborene Löwe iſt noch tigerartig geſtreift, die junge Wildſau, der kleine amerikaniſche Tapier verraten ein Streifen- und Fleckenkleid einer fremden Ahnenwelt. Der Bei¬ ſpiele giebt es zahlloſe.
Wenn im Jugendkleide Mann und Weib des Paradies¬ vogels heute gleich ausſchauen, ſo iſt es im höchſten Grade wahrſcheinlich, daß dieſes Jugendkleid in Wahrheit das Ahnen¬ kleid iſt. Einſt ſah das ganze Volk dieſer Vögel Zeit ſeines Lebens ſo ſchlicht und ärmlich aus. Das Weib muß dann das dauernd konſervative Element geweſen ſein. Es blieb bis heute ſo. Der Mann aber warf eines Tages das Ahnenkleid mit dem mannbaren Alter ab und erſetzte es durch ein ſtrahlendes Prachtgewand ganz neuer Art. Wie kam das? Das iſt die Frage.
Darwin ſchließt weiter.
Sieh dir zuerſt dieſes ſchlichte Kleid des heutigen Weibchens einmal unter dem Geſichtspunkte an, daß es das ehemalige allgemeine Kleid der Ahnen war. Es iſt, wenn nicht alles trügt, ein ſogenanntes Anpaſſungskleid.
Ich denke, du weißt, im Umriß wenigſtens, was das heißt. Der Kampf ums Daſein tobt in der Natur. Die Weſen ringen um ihr Leben. Starke, indem ſie angreifen, Schwache, indem ſie ſich verbergen. Die Farbe iſt ein Mittel in dieſem Zwiſt. Sie verbirgt den Angreifer wie den Angegriffenen. Das Wüſtentier auf gelbem Wüſtenboden hat Vorteil, wenn es gelb iſt, wie Löwe, Schakal, Wüſtenfuchs, Sandviper und Sand¬ eidechſe. Dem Polartier dient, wenn es weiß wie Schnee iſt:
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form, die Keimform und Kinderform wiederholt noch einmal
das Bild der Ahnen. Der junge Froſch atmet noch einmal
mit Kiemen wie ein Fiſch, ſchleppt einen Schwanz hinter ſich
her, wie ein Molch. Auch der ganz junge Vogel im Ei zeigt
noch ſolche Kiemenſpalten, ſeine Flügel und Beine ähneln zuerſt
Floſſen. Der junge Walfiſch entwickelt zuerſt ſtatt der Fiſchbein¬
barten regelrechte kleine Zähne wie ſeine Vorfahren ſie hatten.
Der kleine neugeborene Löwe iſt noch tigerartig geſtreift, die
junge Wildſau, der kleine amerikaniſche Tapier verraten ein
Streifen- und Fleckenkleid einer fremden Ahnenwelt. Der Bei¬
ſpiele giebt es zahlloſe.
Wenn im Jugendkleide Mann und Weib des Paradies¬
vogels heute gleich ausſchauen, ſo iſt es im höchſten Grade
wahrſcheinlich, daß dieſes Jugendkleid in Wahrheit das Ahnen¬
kleid iſt. Einſt ſah das ganze Volk dieſer Vögel Zeit ſeines
Lebens ſo ſchlicht und ärmlich aus. Das Weib muß dann
das dauernd konſervative Element geweſen ſein. Es blieb bis
heute ſo. Der Mann aber warf eines Tages das Ahnenkleid
mit dem mannbaren Alter ab und erſetzte es durch ein
ſtrahlendes Prachtgewand ganz neuer Art. Wie kam das?
Das iſt die Frage.
Darwin ſchließt weiter.
Sieh dir zuerſt dieſes ſchlichte Kleid des heutigen Weibchens
einmal unter dem Geſichtspunkte an, daß es das ehemalige
allgemeine Kleid der Ahnen war. Es iſt, wenn nicht alles
trügt, ein ſogenanntes Anpaſſungskleid.
Ich denke, du weißt, im Umriß wenigſtens, was das heißt.
Der Kampf ums Daſein tobt in der Natur. Die Weſen ringen
um ihr Leben. Starke, indem ſie angreifen, Schwache, indem
ſie ſich verbergen. Die Farbe iſt ein Mittel in dieſem Zwiſt.
Sie verbirgt den Angreifer wie den Angegriffenen. Das
Wüſtentier auf gelbem Wüſtenboden hat Vorteil, wenn es gelb
iſt, wie Löwe, Schakal, Wüſtenfuchs, Sandviper und Sand¬
eidechſe. Dem Polartier dient, wenn es weiß wie Schnee iſt:
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/386>, abgerufen am 22.11.2024.
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