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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Du lebst gerade in einer Weltenschau, die die vertrocknenden
Samentierchen in ihrem Entwickelungsloos augenblicklich und
für immer verliert, -- während die anderen, aus denen ein
Mensch von deinesgleichen wird, in deine Welt, so lange sie
Mensch sind, hineinwachsen, sich dir sichtbar, hörbar, fühlbar
machen. Nur was von Milliarden gerade in die Form der
Menschwerdung tritt, siehst du, erlebst du weiter, -- alles
andere tritt für dich in die Versenkung ein. Aber wie willst
du da nun werten, willst du abwägen? Wenn ein Sternen¬
punkt der Schnittpunkt eines ganzen Kosmos sein kann, -- willst
du einen Menschen ohne weiteres gegen einen Kosmos stellen?

Das Wiederverschwinden aus deinem Gesichtskreise kann
doch kein Werturteil für sich abgeben. Denn auch der Mensch
in der Höhe all seiner Kraft entschwindet dir eines Tages
ebenso doch noch, schließlich. Und was weißt du im Grunde
von ihm so viel mehr als von dem vertrocknenden Samen¬
tierchen, das gerade das Loos hat, augenblicklich zu gehen?
Aus dem "Nichts" kommt ihr, ins "Nichts" geht ihr. Dieses
"Nichts" zu verklären mit dem ewigen Entwickelungsgedanken,
in ihm das Ganze zu ahnen, von dem wir nur die zufälligen
paar Querschnitte sehen, durch die gerade unsere Existenzphase
eben durchschneidet, -- das ist zuletzt die wesentlichste Aufgabe
aller Naturerkenntnis, aller Weltanschauung.

Und so ist es auch die wahre Erlösungs-Philosophie des
auf kalter Leinewand verschmachtenden Samentierchens.

Tiefinnerlichste Wege scheiden sich hier.

Wenn du in dem Weltgeschehen überhaupt bloß ein
Nonsens, einen weltengroßen Unsinn siehst, -- dann ist der
weltengroße Goethe in seinem Sterbesessel auch nur ein armes
verelendendes Samentierchen, das nach einem wilden Liebes¬
spiel auf der Bettdecke liegen geblieben ist und mit dem
Schwänzchen zuckt, bis der letzte Rest Wärme und Feuchtig¬
keit entschwindet und der alte Schnitter Tod es in die kalte
Garbe wirft.

Du lebſt gerade in einer Weltenſchau, die die vertrocknenden
Samentierchen in ihrem Entwickelungsloos augenblicklich und
für immer verliert, — während die anderen, aus denen ein
Menſch von deinesgleichen wird, in deine Welt, ſo lange ſie
Menſch ſind, hineinwachſen, ſich dir ſichtbar, hörbar, fühlbar
machen. Nur was von Milliarden gerade in die Form der
Menſchwerdung tritt, ſiehſt du, erlebſt du weiter, — alles
andere tritt für dich in die Verſenkung ein. Aber wie willſt
du da nun werten, willſt du abwägen? Wenn ein Sternen¬
punkt der Schnittpunkt eines ganzen Kosmos ſein kann, — willſt
du einen Menſchen ohne weiteres gegen einen Kosmos ſtellen?

Das Wiederverſchwinden aus deinem Geſichtskreiſe kann
doch kein Werturteil für ſich abgeben. Denn auch der Menſch
in der Höhe all ſeiner Kraft entſchwindet dir eines Tages
ebenſo doch noch, ſchließlich. Und was weißt du im Grunde
von ihm ſo viel mehr als von dem vertrocknenden Samen¬
tierchen, das gerade das Loos hat, augenblicklich zu gehen?
Aus dem „Nichts“ kommt ihr, ins „Nichts“ geht ihr. Dieſes
„Nichts“ zu verklären mit dem ewigen Entwickelungsgedanken,
in ihm das Ganze zu ahnen, von dem wir nur die zufälligen
paar Querſchnitte ſehen, durch die gerade unſere Exiſtenzphaſe
eben durchſchneidet, — das iſt zuletzt die weſentlichſte Aufgabe
aller Naturerkenntnis, aller Weltanſchauung.

Und ſo iſt es auch die wahre Erlöſungs-Philoſophie des
auf kalter Leinewand verſchmachtenden Samentierchens.

Tiefinnerlichſte Wege ſcheiden ſich hier.

Wenn du in dem Weltgeſchehen überhaupt bloß ein
Nonſens, einen weltengroßen Unſinn ſiehſt, — dann iſt der
weltengroße Goethe in ſeinem Sterbeſeſſel auch nur ein armes
verelendendes Samentierchen, das nach einem wilden Liebes¬
ſpiel auf der Bettdecke liegen geblieben iſt und mit dem
Schwänzchen zuckt, bis der letzte Reſt Wärme und Feuchtig¬
keit entſchwindet und der alte Schnitter Tod es in die kalte
Garbe wirft.

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[338/0354] Du lebſt gerade in einer Weltenſchau, die die vertrocknenden Samentierchen in ihrem Entwickelungsloos augenblicklich und für immer verliert, — während die anderen, aus denen ein Menſch von deinesgleichen wird, in deine Welt, ſo lange ſie Menſch ſind, hineinwachſen, ſich dir ſichtbar, hörbar, fühlbar machen. Nur was von Milliarden gerade in die Form der Menſchwerdung tritt, ſiehſt du, erlebſt du weiter, — alles andere tritt für dich in die Verſenkung ein. Aber wie willſt du da nun werten, willſt du abwägen? Wenn ein Sternen¬ punkt der Schnittpunkt eines ganzen Kosmos ſein kann, — willſt du einen Menſchen ohne weiteres gegen einen Kosmos ſtellen? Das Wiederverſchwinden aus deinem Geſichtskreiſe kann doch kein Werturteil für ſich abgeben. Denn auch der Menſch in der Höhe all ſeiner Kraft entſchwindet dir eines Tages ebenſo doch noch, ſchließlich. Und was weißt du im Grunde von ihm ſo viel mehr als von dem vertrocknenden Samen¬ tierchen, das gerade das Loos hat, augenblicklich zu gehen? Aus dem „Nichts“ kommt ihr, ins „Nichts“ geht ihr. Dieſes „Nichts“ zu verklären mit dem ewigen Entwickelungsgedanken, in ihm das Ganze zu ahnen, von dem wir nur die zufälligen paar Querſchnitte ſehen, durch die gerade unſere Exiſtenzphaſe eben durchſchneidet, — das iſt zuletzt die weſentlichſte Aufgabe aller Naturerkenntnis, aller Weltanſchauung. Und ſo iſt es auch die wahre Erlöſungs-Philoſophie des auf kalter Leinewand verſchmachtenden Samentierchens. Tiefinnerlichſte Wege ſcheiden ſich hier. Wenn du in dem Weltgeſchehen überhaupt bloß ein Nonſens, einen weltengroßen Unſinn ſiehſt, — dann iſt der weltengroße Goethe in ſeinem Sterbeſeſſel auch nur ein armes verelendendes Samentierchen, das nach einem wilden Liebes¬ ſpiel auf der Bettdecke liegen geblieben iſt und mit dem Schwänzchen zuckt, bis der letzte Reſt Wärme und Feuchtig¬ keit entſchwindet und der alte Schnitter Tod es in die kalte Garbe wirft.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/354>, abgerufen am 22.11.2024.