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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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schwingendes Molekül im ungeheuren Verbrennungsprozeß einer
Gedankenfabrik, die Fixstern-Gedanken denkt.

Das verschmachtende Samentierchen so gut wie der aus¬
wachsende Mensch sind Schnittecken solcher Entwickelung. Ein¬
mal siehst du nur einen Punkt, einmal ein längeres Stück im
Schnitt, einen Stamm gleichsam, der im Querschnitt Jahres¬
ringe setzt. Was willst du? Ein Ganzes, ewig Fortschreitendes
siehst du als solches hier so wenig wie dort. Dein Samen¬
tierchen, das dich hat bilden helfen, ist nicht auf einer Leine¬
wand eingetrocknet. Du bist daraus geworden. Aber was ist
dieses Du? Morgen liegst auch du auf einer Leinewand,
keuchst und ringst nach Wärme, Luft und Licht, -- und stirbst
ebenso, bloß so und so viel Jahre später, heraus aus einem
Leben der vollen Kraft, das den Sternenhimmel geschaut, das
Goethe gelesen, das unter Liebesschauern und Erkenntnis¬
schauern und Schönheitsschauern gezittert hat, -- aber doch
heraus -- in dasselbe "Nichts".

Nämlich in denselben Längsteil unbekannter Entwickelungen
hinein, von denen du unabänderlich dort wie hier nur den
Querschnitt siehst, der sich gerade in deine Lebensebene
projiziert.

Ein Punkt hier, -- ein kleiner Stammes-Querschnitt mit
Jahresringen dort. Aber du hast in jenem Bilde gesehen:
der Punkt schon, ein einsames leuchtendes Lichtpünktlein im
All, kann eine ganze Welt von Trillionen Sonnen umschließen,
um die Quadrillonen Erden voll sehnsuchtsvoller Menschen¬
augen kreisen innerhalb des einen Punktes. Den erwachsenen
Menschen schneidest du im Gegensatz zum Samentierchen ein
zeitlich längeres Stück, nicht mit einem Punktquerschnitt bloß,
sondern mit einem erweiterten Querschnitt vieler konzentrischer
Kreise, die sich im Laufe von vierzig oder sechzig Jahren um
diesen Punkt legen. Schließlich aber hört dir der eine Schnitt
für dein Sehen so gut wieder auf wie der andere. In dir
liegt offenbar die Verschiedenheit.

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ſchwingendes Molekül im ungeheuren Verbrennungsprozeß einer
Gedankenfabrik, die Fixſtern-Gedanken denkt.

Das verſchmachtende Samentierchen ſo gut wie der aus¬
wachſende Menſch ſind Schnittecken ſolcher Entwickelung. Ein¬
mal ſiehſt du nur einen Punkt, einmal ein längeres Stück im
Schnitt, einen Stamm gleichſam, der im Querſchnitt Jahres¬
ringe ſetzt. Was willſt du? Ein Ganzes, ewig Fortſchreitendes
ſiehſt du als ſolches hier ſo wenig wie dort. Dein Samen¬
tierchen, das dich hat bilden helfen, iſt nicht auf einer Leine¬
wand eingetrocknet. Du biſt daraus geworden. Aber was iſt
dieſes Du? Morgen liegſt auch du auf einer Leinewand,
keuchſt und ringſt nach Wärme, Luft und Licht, — und ſtirbſt
ebenſo, bloß ſo und ſo viel Jahre ſpäter, heraus aus einem
Leben der vollen Kraft, das den Sternenhimmel geſchaut, das
Goethe geleſen, das unter Liebesſchauern und Erkenntnis¬
ſchauern und Schönheitsſchauern gezittert hat, — aber doch
heraus — in dasſelbe „Nichts“.

Nämlich in denſelben Längsteil unbekannter Entwickelungen
hinein, von denen du unabänderlich dort wie hier nur den
Querſchnitt ſiehſt, der ſich gerade in deine Lebensebene
projiziert.

Ein Punkt hier, — ein kleiner Stammes-Querſchnitt mit
Jahresringen dort. Aber du haſt in jenem Bilde geſehen:
der Punkt ſchon, ein einſames leuchtendes Lichtpünktlein im
All, kann eine ganze Welt von Trillionen Sonnen umſchließen,
um die Quadrillonen Erden voll ſehnſuchtsvoller Menſchen¬
augen kreiſen innerhalb des einen Punktes. Den erwachſenen
Menſchen ſchneideſt du im Gegenſatz zum Samentierchen ein
zeitlich längeres Stück, nicht mit einem Punktquerſchnitt bloß,
ſondern mit einem erweiterten Querſchnitt vieler konzentriſcher
Kreiſe, die ſich im Laufe von vierzig oder ſechzig Jahren um
dieſen Punkt legen. Schließlich aber hört dir der eine Schnitt
für dein Sehen ſo gut wieder auf wie der andere. In dir
liegt offenbar die Verſchiedenheit.

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[337/0353] ſchwingendes Molekül im ungeheuren Verbrennungsprozeß einer Gedankenfabrik, die Fixſtern-Gedanken denkt. Das verſchmachtende Samentierchen ſo gut wie der aus¬ wachſende Menſch ſind Schnittecken ſolcher Entwickelung. Ein¬ mal ſiehſt du nur einen Punkt, einmal ein längeres Stück im Schnitt, einen Stamm gleichſam, der im Querſchnitt Jahres¬ ringe ſetzt. Was willſt du? Ein Ganzes, ewig Fortſchreitendes ſiehſt du als ſolches hier ſo wenig wie dort. Dein Samen¬ tierchen, das dich hat bilden helfen, iſt nicht auf einer Leine¬ wand eingetrocknet. Du biſt daraus geworden. Aber was iſt dieſes Du? Morgen liegſt auch du auf einer Leinewand, keuchſt und ringſt nach Wärme, Luft und Licht, — und ſtirbſt ebenſo, bloß ſo und ſo viel Jahre ſpäter, heraus aus einem Leben der vollen Kraft, das den Sternenhimmel geſchaut, das Goethe geleſen, das unter Liebesſchauern und Erkenntnis¬ ſchauern und Schönheitsſchauern gezittert hat, — aber doch heraus — in dasſelbe „Nichts“. Nämlich in denſelben Längsteil unbekannter Entwickelungen hinein, von denen du unabänderlich dort wie hier nur den Querſchnitt ſiehſt, der ſich gerade in deine Lebensebene projiziert. Ein Punkt hier, — ein kleiner Stammes-Querſchnitt mit Jahresringen dort. Aber du haſt in jenem Bilde geſehen: der Punkt ſchon, ein einſames leuchtendes Lichtpünktlein im All, kann eine ganze Welt von Trillionen Sonnen umſchließen, um die Quadrillonen Erden voll ſehnſuchtsvoller Menſchen¬ augen kreiſen innerhalb des einen Punktes. Den erwachſenen Menſchen ſchneideſt du im Gegenſatz zum Samentierchen ein zeitlich längeres Stück, nicht mit einem Punktquerſchnitt bloß, ſondern mit einem erweiterten Querſchnitt vieler konzentriſcher Kreiſe, die ſich im Laufe von vierzig oder ſechzig Jahren um dieſen Punkt legen. Schließlich aber hört dir der eine Schnitt für dein Sehen ſo gut wieder auf wie der andere. In dir liegt offenbar die Verſchiedenheit. 22

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/353>, abgerufen am 22.11.2024.