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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Warum diese Klammerfähigkeit des Beißens nicht für den
Liebesakt verwerten? Skrupellos wird einmal wieder eine
Freßsache für die Liebe mit benutzt.

Das Neunauge, das noch keine eigentlichen Beißkiefern
im Maule hat, versteht unter Zupacken mit dem Munde noch
nicht eigentlich Beißen, sondern Ansaugen. Wie zu einem
Kusse glühender Art preßt es sein Mäulchen auf den Gegenstand,
an dem es haften möchte. Für gewöhnlich ist dieser Kuß
allerdings das Gegenteil von Liebe. Als scheußlichste Plage
schlängelt sich so ein kleines wurmartiges Vieh unter den Bauch
eines viel größeren Fisches. Schwapp hat es geküßt, das
heißt sich angesaugt. An einer Stelle, die der Fisch selber
nicht erreichen kann gleich jenem berühmten Fleck in Siegfrieds
Nacken, den er sich nicht mit Drachenblut salben konnte und
der sein Tod wurde. Ein bitterer Kuß. Wie spröde kleine
Mädchen, die noch nicht liebesweich zu küssen verstehen, sondern
die spitzen Zähnchen mitbohren, so fühlt der arme Fisch als¬
bald hinter dem Küßmunde des Neunauges etwas wie eine
Raspel, die seine Haut angreift. Es sind die Zähne des lieben
Neunäugeleins, denn es will ja fressen und nicht küssen. Die
Raspel raspelt denn auch ganz gemächlich die Schuppendecke
durch, die Haut, das Muskelfleisch. Immer tiefer taucht der
Küßmund in den Leib des unglückseligen Fisches, das Neun¬
auge frißt sich regelrecht einen Tunnel in den fremden Leib,
bis der ganze Berg zu Tode gequält abstirbt.

Es liegt wahrlich nahe, daß ein Tier, das sich so elegant
und schlechterdings unabschüttelbar an seinen Feind anzuküssen
wußte, sich auch Rat fand zum Aneinanderküssen des Liebes-
Individuums. Du weißt, daß Berlin außer der Spree noch
einen geheimnisvollen, so zu sagen unterirdischen Fluß hat,
der sich unter Straßen und Häusern des Kolosses herwindet
wie eines der schwarzen Grottenwasser von Adelsberg: die
Panke. In der Panke ist zuerst das Liebesspiel der Neun¬
augen beobachtet worden. Auch die Neunaugen bauen eine

Warum dieſe Klammerfähigkeit des Beißens nicht für den
Liebesakt verwerten? Skrupellos wird einmal wieder eine
Freßſache für die Liebe mit benutzt.

Das Neunauge, das noch keine eigentlichen Beißkiefern
im Maule hat, verſteht unter Zupacken mit dem Munde noch
nicht eigentlich Beißen, ſondern Anſaugen. Wie zu einem
Kuſſe glühender Art preßt es ſein Mäulchen auf den Gegenſtand,
an dem es haften möchte. Für gewöhnlich iſt dieſer Kuß
allerdings das Gegenteil von Liebe. Als ſcheußlichſte Plage
ſchlängelt ſich ſo ein kleines wurmartiges Vieh unter den Bauch
eines viel größeren Fiſches. Schwapp hat es geküßt, das
heißt ſich angeſaugt. An einer Stelle, die der Fiſch ſelber
nicht erreichen kann gleich jenem berühmten Fleck in Siegfrieds
Nacken, den er ſich nicht mit Drachenblut ſalben konnte und
der ſein Tod wurde. Ein bitterer Kuß. Wie ſpröde kleine
Mädchen, die noch nicht liebesweich zu küſſen verſtehen, ſondern
die ſpitzen Zähnchen mitbohren, ſo fühlt der arme Fiſch als¬
bald hinter dem Küßmunde des Neunauges etwas wie eine
Raſpel, die ſeine Haut angreift. Es ſind die Zähne des lieben
Neunäugeleins, denn es will ja freſſen und nicht küſſen. Die
Raſpel raſpelt denn auch ganz gemächlich die Schuppendecke
durch, die Haut, das Muskelfleiſch. Immer tiefer taucht der
Küßmund in den Leib des unglückſeligen Fiſches, das Neun¬
auge frißt ſich regelrecht einen Tunnel in den fremden Leib,
bis der ganze Berg zu Tode gequält abſtirbt.

Es liegt wahrlich nahe, daß ein Tier, das ſich ſo elegant
und ſchlechterdings unabſchüttelbar an ſeinen Feind anzuküſſen
wußte, ſich auch Rat fand zum Aneinanderküſſen des Liebes-
Individuums. Du weißt, daß Berlin außer der Spree noch
einen geheimnisvollen, ſo zu ſagen unterirdiſchen Fluß hat,
der ſich unter Straßen und Häuſern des Koloſſes herwindet
wie eines der ſchwarzen Grottenwaſſer von Adelsberg: die
Panke. In der Panke iſt zuerſt das Liebesſpiel der Neun¬
augen beobachtet worden. Auch die Neunaugen bauen eine

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[271/0287] Warum dieſe Klammerfähigkeit des Beißens nicht für den Liebesakt verwerten? Skrupellos wird einmal wieder eine Freßſache für die Liebe mit benutzt. Das Neunauge, das noch keine eigentlichen Beißkiefern im Maule hat, verſteht unter Zupacken mit dem Munde noch nicht eigentlich Beißen, ſondern Anſaugen. Wie zu einem Kuſſe glühender Art preßt es ſein Mäulchen auf den Gegenſtand, an dem es haften möchte. Für gewöhnlich iſt dieſer Kuß allerdings das Gegenteil von Liebe. Als ſcheußlichſte Plage ſchlängelt ſich ſo ein kleines wurmartiges Vieh unter den Bauch eines viel größeren Fiſches. Schwapp hat es geküßt, das heißt ſich angeſaugt. An einer Stelle, die der Fiſch ſelber nicht erreichen kann gleich jenem berühmten Fleck in Siegfrieds Nacken, den er ſich nicht mit Drachenblut ſalben konnte und der ſein Tod wurde. Ein bitterer Kuß. Wie ſpröde kleine Mädchen, die noch nicht liebesweich zu küſſen verſtehen, ſondern die ſpitzen Zähnchen mitbohren, ſo fühlt der arme Fiſch als¬ bald hinter dem Küßmunde des Neunauges etwas wie eine Raſpel, die ſeine Haut angreift. Es ſind die Zähne des lieben Neunäugeleins, denn es will ja freſſen und nicht küſſen. Die Raſpel raſpelt denn auch ganz gemächlich die Schuppendecke durch, die Haut, das Muskelfleiſch. Immer tiefer taucht der Küßmund in den Leib des unglückſeligen Fiſches, das Neun¬ auge frißt ſich regelrecht einen Tunnel in den fremden Leib, bis der ganze Berg zu Tode gequält abſtirbt. Es liegt wahrlich nahe, daß ein Tier, das ſich ſo elegant und ſchlechterdings unabſchüttelbar an ſeinen Feind anzuküſſen wußte, ſich auch Rat fand zum Aneinanderküſſen des Liebes- Individuums. Du weißt, daß Berlin außer der Spree noch einen geheimnisvollen, ſo zu ſagen unterirdiſchen Fluß hat, der ſich unter Straßen und Häuſern des Koloſſes herwindet wie eines der ſchwarzen Grottenwaſſer von Adelsberg: die Panke. In der Panke iſt zuerſt das Liebesſpiel der Neun¬ augen beobachtet worden. Auch die Neunaugen bauen eine

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/287>, abgerufen am 25.11.2024.