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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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von dir. Ein schwindelndes Bild, welche Mengen. Denke
dir: du bekämst plötzlich einen Überblick über die ganze
Lebensarbeit deiner Individualität in diesem Sinne. Vor
dir die ganze Nahrung deines Lebens: vom Mutterblut, das
dich als Embryo speiste, bis zu dem letzten Zuge Luft in die
welke Lunge des sterbenden Greises. Und hinter dir die
endlose Abfallstätte. Ein wahres Grausen würde dich fassen
vor der Riesengröße eigentlich deines Individuums, der Masse
der Dinge, die du in deinen Lebensjahren umspannt, durch¬
drungen hast. Hügel und Teiche von Nahrung; und hinter
dir Hügel und Teiche von schon wieder Ausgelöstem. Und
die Menschheit im ganzen wie ein ungeheuerlicher Regenwurm,
der, wie dieser unablässig sein kleines Feld, so die ganze Erd¬
rinde durch die Jahrtausende hindurch immerzu in sich hinein¬
schlingt und wieder von sich gibt. Die Pflanzen kauen ihr
die Mineralstoffe vor, sie verschlingt dann die grüne Pflanzen¬
decke, verschlingt das Tier, das selber schon von Pflanzen
genährt ist. Und im höchsten Sinne, da doch Pflanze, Tier
und Mensch alle nur wieder Teile der Erde sind, ist es diese
Erdkugel selbst, die an ihrer Oberfläche sich wie ein enormer
Magen immer neu verdaut, ihre eigenen Stoffe um und um
kreisen läßt.

In dieses große Bild gehört nun auch dein Urin, auch
er ein unablässig rauschender Strom in diesem gigantischen
Panorama, ein beständiger Platzregen, der von der Tier- und
Menschheit niederrinnt, um wieder in den großen Kreislauf
zurückzukehren.

Nahrung ist in dich eingetreten, du hast dich wieder so
und so viel Kubikzoll weiter in deine Umgebung, in das
Erdreich, in dem du als Regenwurm steckst, eingefressen. Der
Darmschlauch und sein Anhängsel, die Lunge (du erinnerst dich:
sie ist ursprünglich nur ein Blindsack seiner Schlundseite)
haben die Nahrung zunächst grob umfaßt. Das Blut zahlt
sie dann erst verfeinert den ganzen Körpergeweben aus, pumpt

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von dir. Ein ſchwindelndes Bild, welche Mengen. Denke
dir: du bekämſt plötzlich einen Überblick über die ganze
Lebensarbeit deiner Individualität in dieſem Sinne. Vor
dir die ganze Nahrung deines Lebens: vom Mutterblut, das
dich als Embryo ſpeiſte, bis zu dem letzten Zuge Luft in die
welke Lunge des ſterbenden Greiſes. Und hinter dir die
endloſe Abfallſtätte. Ein wahres Grauſen würde dich faſſen
vor der Rieſengröße eigentlich deines Individuums, der Maſſe
der Dinge, die du in deinen Lebensjahren umſpannt, durch¬
drungen haſt. Hügel und Teiche von Nahrung; und hinter
dir Hügel und Teiche von ſchon wieder Ausgelöſtem. Und
die Menſchheit im ganzen wie ein ungeheuerlicher Regenwurm,
der, wie dieſer unabläſſig ſein kleines Feld, ſo die ganze Erd¬
rinde durch die Jahrtauſende hindurch immerzu in ſich hinein¬
ſchlingt und wieder von ſich gibt. Die Pflanzen kauen ihr
die Mineralſtoffe vor, ſie verſchlingt dann die grüne Pflanzen¬
decke, verſchlingt das Tier, das ſelber ſchon von Pflanzen
genährt iſt. Und im höchſten Sinne, da doch Pflanze, Tier
und Menſch alle nur wieder Teile der Erde ſind, iſt es dieſe
Erdkugel ſelbſt, die an ihrer Oberfläche ſich wie ein enormer
Magen immer neu verdaut, ihre eigenen Stoffe um und um
kreiſen läßt.

In dieſes große Bild gehört nun auch dein Urin, auch
er ein unabläſſig rauſchender Strom in dieſem gigantiſchen
Panorama, ein beſtändiger Platzregen, der von der Tier- und
Menſchheit niederrinnt, um wieder in den großen Kreislauf
zurückzukehren.

Nahrung iſt in dich eingetreten, du haſt dich wieder ſo
und ſo viel Kubikzoll weiter in deine Umgebung, in das
Erdreich, in dem du als Regenwurm ſteckſt, eingefreſſen. Der
Darmſchlauch und ſein Anhängſel, die Lunge (du erinnerſt dich:
ſie iſt urſprünglich nur ein Blindſack ſeiner Schlundſeite)
haben die Nahrung zunächſt grob umfaßt. Das Blut zahlt
ſie dann erſt verfeinert den ganzen Körpergeweben aus, pumpt

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[243/0259] von dir. Ein ſchwindelndes Bild, welche Mengen. Denke dir: du bekämſt plötzlich einen Überblick über die ganze Lebensarbeit deiner Individualität in dieſem Sinne. Vor dir die ganze Nahrung deines Lebens: vom Mutterblut, das dich als Embryo ſpeiſte, bis zu dem letzten Zuge Luft in die welke Lunge des ſterbenden Greiſes. Und hinter dir die endloſe Abfallſtätte. Ein wahres Grauſen würde dich faſſen vor der Rieſengröße eigentlich deines Individuums, der Maſſe der Dinge, die du in deinen Lebensjahren umſpannt, durch¬ drungen haſt. Hügel und Teiche von Nahrung; und hinter dir Hügel und Teiche von ſchon wieder Ausgelöſtem. Und die Menſchheit im ganzen wie ein ungeheuerlicher Regenwurm, der, wie dieſer unabläſſig ſein kleines Feld, ſo die ganze Erd¬ rinde durch die Jahrtauſende hindurch immerzu in ſich hinein¬ ſchlingt und wieder von ſich gibt. Die Pflanzen kauen ihr die Mineralſtoffe vor, ſie verſchlingt dann die grüne Pflanzen¬ decke, verſchlingt das Tier, das ſelber ſchon von Pflanzen genährt iſt. Und im höchſten Sinne, da doch Pflanze, Tier und Menſch alle nur wieder Teile der Erde ſind, iſt es dieſe Erdkugel ſelbſt, die an ihrer Oberfläche ſich wie ein enormer Magen immer neu verdaut, ihre eigenen Stoffe um und um kreiſen läßt. In dieſes große Bild gehört nun auch dein Urin, auch er ein unabläſſig rauſchender Strom in dieſem gigantiſchen Panorama, ein beſtändiger Platzregen, der von der Tier- und Menſchheit niederrinnt, um wieder in den großen Kreislauf zurückzukehren. Nahrung iſt in dich eingetreten, du haſt dich wieder ſo und ſo viel Kubikzoll weiter in deine Umgebung, in das Erdreich, in dem du als Regenwurm ſteckſt, eingefreſſen. Der Darmſchlauch und ſein Anhängſel, die Lunge (du erinnerſt dich: ſie iſt urſprünglich nur ein Blindſack ſeiner Schlundſeite) haben die Nahrung zunächſt grob umfaßt. Das Blut zahlt ſie dann erſt verfeinert den ganzen Körpergeweben aus, pumpt 16*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/259>, abgerufen am 11.05.2024.