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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Der Mensch, der bloß lebt, ist heute noch keinen Zoll
hinaus über das Tier. Er kann gar nicht von ihm ab¬
stammen, denn er ist es noch. Er sitzt wie die Made unter
der Käseglocke, vor sich diesen endlosen Käseberg des Lebens.
Er frißt und stößt und behauptet sich, abwechselnd mit Maden-
Stolz und Maden-Resignation. Bisweilen prallt er wider die
große steinharte Glasglocke, dann flennt er, weil ihm etwas
auf den Kopf gefallen sei, für das er dann einen Namen er¬
findet, irgend einen alten Zauber- und Schamanen-Namen
seiner Ammen-Erziehung. Der Mensch der Erkenntnis schlägt
mit seinem ersten Stoß die Glocke ein. Und sieht Sterne
leuchten, Welten, Milchstraßen.

Jener Mensch ist noch das Spiel von tausend unbegriffenen,
blind in ihm wirkenden Trieben, Vererbungen, Anpassungen,
Schutzmitteln, Vorsichten und Rücksichten des Übergangsmenschen.
Alles, wie es das Tier genau so hat. Der andere Mensch
aber hat seinen ganzen Wert schon auf eine einzige Schluß-
Anpassung gestellt: bewußtes Denken über die Welt. Das
hat kein Tier. Dieser Mensch ist über das Tier hinaus.

Gerade dieser Mensch mag mit Ruhe sich sagen, daß seine
uralten Ahnen einst wirklich Tiere waren auch im Äußeren
noch, mit Haaren und Krallen und Schwänzen wie in der
Legende der Satanas. Ihn stört das nicht. Ist er doch selbst
heraus, und das ist die Hauptsache.

Er schaut in die Jahrtausende der Kulturentwickelung
zurück.

Und immer dort schon die zwei Ufer.

Ein kleines Häuflein, das überspringt. Das sind Menschen.
Kein äußerer Rang bestimmt sie. Beileibe nicht, als wenn sie
hinübersprängen auf dem Sprungbrett von Kronen, Wappen
und Scheinen. Nackte Seelen sind es, aber mit einem leuchten¬
den Blick, mit einem Blick der Sehnsucht, der eiserne Ketten
schmilzt wie Schnee. Die Besten aller Zeiten sind herüber.
Buddha war ein Mensch. Sokrates war ein Mensch. Epikur

1*

Der Menſch, der bloß lebt, iſt heute noch keinen Zoll
hinaus über das Tier. Er kann gar nicht von ihm ab¬
ſtammen, denn er iſt es noch. Er ſitzt wie die Made unter
der Käſeglocke, vor ſich dieſen endloſen Käſeberg des Lebens.
Er frißt und ſtößt und behauptet ſich, abwechſelnd mit Maden-
Stolz und Maden-Reſignation. Bisweilen prallt er wider die
große ſteinharte Glasglocke, dann flennt er, weil ihm etwas
auf den Kopf gefallen ſei, für das er dann einen Namen er¬
findet, irgend einen alten Zauber- und Schamanen-Namen
ſeiner Ammen-Erziehung. Der Menſch der Erkenntnis ſchlägt
mit ſeinem erſten Stoß die Glocke ein. Und ſieht Sterne
leuchten, Welten, Milchſtraßen.

Jener Menſch iſt noch das Spiel von tauſend unbegriffenen,
blind in ihm wirkenden Trieben, Vererbungen, Anpaſſungen,
Schutzmitteln, Vorſichten und Rückſichten des Übergangsmenſchen.
Alles, wie es das Tier genau ſo hat. Der andere Menſch
aber hat ſeinen ganzen Wert ſchon auf eine einzige Schluß-
Anpaſſung geſtellt: bewußtes Denken über die Welt. Das
hat kein Tier. Dieſer Menſch iſt über das Tier hinaus.

Gerade dieſer Menſch mag mit Ruhe ſich ſagen, daß ſeine
uralten Ahnen einſt wirklich Tiere waren auch im Äußeren
noch, mit Haaren und Krallen und Schwänzen wie in der
Legende der Satanas. Ihn ſtört das nicht. Iſt er doch ſelbſt
heraus, und das iſt die Hauptſache.

Er ſchaut in die Jahrtauſende der Kulturentwickelung
zurück.

Und immer dort ſchon die zwei Ufer.

Ein kleines Häuflein, das überſpringt. Das ſind Menſchen.
Kein äußerer Rang beſtimmt ſie. Beileibe nicht, als wenn ſie
hinüberſprängen auf dem Sprungbrett von Kronen, Wappen
und Scheinen. Nackte Seelen ſind es, aber mit einem leuchten¬
den Blick, mit einem Blick der Sehnſucht, der eiſerne Ketten
ſchmilzt wie Schnee. Die Beſten aller Zeiten ſind herüber.
Buddha war ein Menſch. Sokrates war ein Menſch. Epikur

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[3/0019] Der Menſch, der bloß lebt, iſt heute noch keinen Zoll hinaus über das Tier. Er kann gar nicht von ihm ab¬ ſtammen, denn er iſt es noch. Er ſitzt wie die Made unter der Käſeglocke, vor ſich dieſen endloſen Käſeberg des Lebens. Er frißt und ſtößt und behauptet ſich, abwechſelnd mit Maden- Stolz und Maden-Reſignation. Bisweilen prallt er wider die große ſteinharte Glasglocke, dann flennt er, weil ihm etwas auf den Kopf gefallen ſei, für das er dann einen Namen er¬ findet, irgend einen alten Zauber- und Schamanen-Namen ſeiner Ammen-Erziehung. Der Menſch der Erkenntnis ſchlägt mit ſeinem erſten Stoß die Glocke ein. Und ſieht Sterne leuchten, Welten, Milchſtraßen. Jener Menſch iſt noch das Spiel von tauſend unbegriffenen, blind in ihm wirkenden Trieben, Vererbungen, Anpaſſungen, Schutzmitteln, Vorſichten und Rückſichten des Übergangsmenſchen. Alles, wie es das Tier genau ſo hat. Der andere Menſch aber hat ſeinen ganzen Wert ſchon auf eine einzige Schluß- Anpaſſung geſtellt: bewußtes Denken über die Welt. Das hat kein Tier. Dieſer Menſch iſt über das Tier hinaus. Gerade dieſer Menſch mag mit Ruhe ſich ſagen, daß ſeine uralten Ahnen einſt wirklich Tiere waren auch im Äußeren noch, mit Haaren und Krallen und Schwänzen wie in der Legende der Satanas. Ihn ſtört das nicht. Iſt er doch ſelbſt heraus, und das iſt die Hauptſache. Er ſchaut in die Jahrtauſende der Kulturentwickelung zurück. Und immer dort ſchon die zwei Ufer. Ein kleines Häuflein, das überſpringt. Das ſind Menſchen. Kein äußerer Rang beſtimmt ſie. Beileibe nicht, als wenn ſie hinüberſprängen auf dem Sprungbrett von Kronen, Wappen und Scheinen. Nackte Seelen ſind es, aber mit einem leuchten¬ den Blick, mit einem Blick der Sehnſucht, der eiſerne Ketten ſchmilzt wie Schnee. Die Beſten aller Zeiten ſind herüber. Buddha war ein Menſch. Sokrates war ein Menſch. Epikur 1*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/19>, abgerufen am 24.11.2024.