Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächst neun lange Monate echt siphonophorisch verwachsen mit dem einen Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer Geburt beiwohnst und den gewaltigen regelrechten Stiel siehst, dessen eines Ende am Nabel des Kindes festhängt, während das andere eben noch an der Mutter saß, so bist du hier genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch das der Verleger in Amerika seinen Reporter in Europa "nährte", als geradezu lächerliches Bild verworfen haben, -- und zwar nicht lächerlich, sondern ernsthaft. Durch dieses dicke Kabel der Nabelschnur ist wirklich Monate lang das Nährblut der Mutter übergeflossen in ihr Kind und das Kind hat mit dem Bauche daran gesogen wie ein Bandwurm. Ja noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüsten der Mutter buchstäblich mit dem Munde seine Nahrung ab.
Diese letztere Handlung steht allerdings schon, wie sehr gut zu merken ist, auf der Grenze zu einem Distanceakt. Schon sind wir Kulturmenschen massenhaft dazu übergegangen, aus dem Mischakt hier einen regelrechten Distanceakt künstlich zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald die fremde gesetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer Art eingeschoben; die Milch dieses Tieres haben wir kondensiert, sterilisiert, auf Flaschen gezogen und mit der Post über Land versendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken wir eben bloß dem Umstande, daß mit dem Austritt des Kindes aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwischen Mischakt und Distanceakt für diesen Fall zu verschwimmen beginnt. Wenig später: und Mutter und Kind sind ohnehin nur noch in einem Distanceverhältnis. Sie sehen sich durch Lichtwellen, verständigen sich nach und nach immer besser durch Schallwellen, kurz sie treten trotz aller intensivsten, unabänderlich fortbe¬ stehenden Liebesgenossenschaft miteinander dauernd in jenes einfache Genossenschaftswesen ein, das mit jeglicher siphono¬ phorischen Mischung schlechterdings gar nichts mehr zu thun hat.
10*
Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächſt neun lange Monate echt ſiphonophoriſch verwachſen mit dem einen Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer Geburt beiwohnſt und den gewaltigen regelrechten Stiel ſiehſt, deſſen eines Ende am Nabel des Kindes feſthängt, während das andere eben noch an der Mutter ſaß, ſo biſt du hier genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch das der Verleger in Amerika ſeinen Reporter in Europa „nährte“, als geradezu lächerliches Bild verworfen haben, — und zwar nicht lächerlich, ſondern ernſthaft. Durch dieſes dicke Kabel der Nabelſchnur iſt wirklich Monate lang das Nährblut der Mutter übergefloſſen in ihr Kind und das Kind hat mit dem Bauche daran geſogen wie ein Bandwurm. Ja noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüſten der Mutter buchſtäblich mit dem Munde ſeine Nahrung ab.
Dieſe letztere Handlung ſteht allerdings ſchon, wie ſehr gut zu merken iſt, auf der Grenze zu einem Diſtanceakt. Schon ſind wir Kulturmenſchen maſſenhaft dazu übergegangen, aus dem Miſchakt hier einen regelrechten Diſtanceakt künſtlich zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald die fremde geſetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer Art eingeſchoben; die Milch dieſes Tieres haben wir kondenſiert, ſteriliſiert, auf Flaſchen gezogen und mit der Poſt über Land verſendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken wir eben bloß dem Umſtande, daß mit dem Auſtritt des Kindes aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwiſchen Miſchakt und Diſtanceakt für dieſen Fall zu verſchwimmen beginnt. Wenig ſpäter: und Mutter und Kind ſind ohnehin nur noch in einem Diſtanceverhältnis. Sie ſehen ſich durch Lichtwellen, verſtändigen ſich nach und nach immer beſſer durch Schallwellen, kurz ſie treten trotz aller intenſivſten, unabänderlich fortbe¬ ſtehenden Liebesgenoſſenſchaft miteinander dauernd in jenes einfache Genoſſenſchaftsweſen ein, das mit jeglicher ſiphono¬ phoriſchen Miſchung ſchlechterdings gar nichts mehr zu thun hat.
10*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0163"n="147"/><p>Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächſt neun<lb/>
lange Monate echt ſiphonophoriſch verwachſen mit dem einen<lb/>
Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer<lb/>
Geburt beiwohnſt und den gewaltigen regelrechten Stiel ſiehſt,<lb/>
deſſen eines Ende am Nabel des Kindes feſthängt, während<lb/>
das andere eben noch an der Mutter ſaß, ſo biſt du hier<lb/>
genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch<lb/>
das der Verleger in Amerika ſeinen Reporter in Europa<lb/>„nährte“, als geradezu lächerliches Bild verworfen haben,<lb/>— und zwar nicht lächerlich, ſondern ernſthaft. Durch dieſes<lb/>
dicke Kabel der Nabelſchnur iſt wirklich Monate lang das<lb/>
Nährblut der Mutter übergefloſſen in ihr Kind und das Kind<lb/>
hat mit dem Bauche daran geſogen wie ein Bandwurm. Ja<lb/>
noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüſten der<lb/>
Mutter buchſtäblich mit dem Munde ſeine Nahrung ab.</p><lb/><p>Dieſe letztere Handlung ſteht allerdings ſchon, wie ſehr<lb/>
gut zu merken iſt, auf der Grenze zu einem Diſtanceakt.<lb/>
Schon ſind wir Kulturmenſchen maſſenhaft dazu übergegangen,<lb/>
aus dem Miſchakt hier einen regelrechten Diſtanceakt künſtlich<lb/>
zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald<lb/>
die fremde geſetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer<lb/>
Art eingeſchoben; die Milch dieſes Tieres haben wir kondenſiert,<lb/>ſteriliſiert, auf Flaſchen gezogen und mit der Poſt über Land<lb/>
verſendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken<lb/>
wir eben bloß dem Umſtande, daß mit dem Auſtritt des Kindes<lb/>
aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwiſchen Miſchakt<lb/>
und Diſtanceakt für dieſen Fall zu verſchwimmen beginnt.<lb/>
Wenig ſpäter: und Mutter und Kind ſind ohnehin nur noch<lb/>
in einem Diſtanceverhältnis. Sie ſehen ſich durch Lichtwellen,<lb/>
verſtändigen ſich nach und nach immer beſſer durch Schallwellen,<lb/>
kurz ſie treten trotz aller intenſivſten, unabänderlich fortbe¬<lb/>ſtehenden Liebesgenoſſenſchaft miteinander dauernd in jenes<lb/>
einfache Genoſſenſchaftsweſen ein, das mit jeglicher ſiphono¬<lb/>
phoriſchen Miſchung ſchlechterdings gar nichts mehr zu thun hat.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">10*<lb/></fw></div></body></text></TEI>
[147/0163]
Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächſt neun
lange Monate echt ſiphonophoriſch verwachſen mit dem einen
Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer
Geburt beiwohnſt und den gewaltigen regelrechten Stiel ſiehſt,
deſſen eines Ende am Nabel des Kindes feſthängt, während
das andere eben noch an der Mutter ſaß, ſo biſt du hier
genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch
das der Verleger in Amerika ſeinen Reporter in Europa
„nährte“, als geradezu lächerliches Bild verworfen haben,
— und zwar nicht lächerlich, ſondern ernſthaft. Durch dieſes
dicke Kabel der Nabelſchnur iſt wirklich Monate lang das
Nährblut der Mutter übergefloſſen in ihr Kind und das Kind
hat mit dem Bauche daran geſogen wie ein Bandwurm. Ja
noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüſten der
Mutter buchſtäblich mit dem Munde ſeine Nahrung ab.
Dieſe letztere Handlung ſteht allerdings ſchon, wie ſehr
gut zu merken iſt, auf der Grenze zu einem Diſtanceakt.
Schon ſind wir Kulturmenſchen maſſenhaft dazu übergegangen,
aus dem Miſchakt hier einen regelrechten Diſtanceakt künſtlich
zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald
die fremde geſetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer
Art eingeſchoben; die Milch dieſes Tieres haben wir kondenſiert,
ſteriliſiert, auf Flaſchen gezogen und mit der Poſt über Land
verſendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken
wir eben bloß dem Umſtande, daß mit dem Auſtritt des Kindes
aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwiſchen Miſchakt
und Diſtanceakt für dieſen Fall zu verſchwimmen beginnt.
Wenig ſpäter: und Mutter und Kind ſind ohnehin nur noch
in einem Diſtanceverhältnis. Sie ſehen ſich durch Lichtwellen,
verſtändigen ſich nach und nach immer beſſer durch Schallwellen,
kurz ſie treten trotz aller intenſivſten, unabänderlich fortbe¬
ſtehenden Liebesgenoſſenſchaft miteinander dauernd in jenes
einfache Genoſſenſchaftsweſen ein, das mit jeglicher ſiphono¬
phoriſchen Miſchung ſchlechterdings gar nichts mehr zu thun hat.
10*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/163>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.