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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächst neun
lange Monate echt siphonophorisch verwachsen mit dem einen
Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer
Geburt beiwohnst und den gewaltigen regelrechten Stiel siehst,
dessen eines Ende am Nabel des Kindes festhängt, während
das andere eben noch an der Mutter saß, so bist du hier
genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch
das der Verleger in Amerika seinen Reporter in Europa
"nährte", als geradezu lächerliches Bild verworfen haben,
-- und zwar nicht lächerlich, sondern ernsthaft. Durch dieses
dicke Kabel der Nabelschnur ist wirklich Monate lang das
Nährblut der Mutter übergeflossen in ihr Kind und das Kind
hat mit dem Bauche daran gesogen wie ein Bandwurm. Ja
noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüsten der
Mutter buchstäblich mit dem Munde seine Nahrung ab.

Diese letztere Handlung steht allerdings schon, wie sehr
gut zu merken ist, auf der Grenze zu einem Distanceakt.
Schon sind wir Kulturmenschen massenhaft dazu übergegangen,
aus dem Mischakt hier einen regelrechten Distanceakt künstlich
zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald
die fremde gesetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer
Art eingeschoben; die Milch dieses Tieres haben wir kondensiert,
sterilisiert, auf Flaschen gezogen und mit der Post über Land
versendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken
wir eben bloß dem Umstande, daß mit dem Austritt des Kindes
aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwischen Mischakt
und Distanceakt für diesen Fall zu verschwimmen beginnt.
Wenig später: und Mutter und Kind sind ohnehin nur noch
in einem Distanceverhältnis. Sie sehen sich durch Lichtwellen,
verständigen sich nach und nach immer besser durch Schallwellen,
kurz sie treten trotz aller intensivsten, unabänderlich fortbe¬
stehenden Liebesgenossenschaft miteinander dauernd in jenes
einfache Genossenschaftswesen ein, das mit jeglicher siphono¬
phorischen Mischung schlechterdings gar nichts mehr zu thun hat.

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Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächſt neun
lange Monate echt ſiphonophoriſch verwachſen mit dem einen
Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer
Geburt beiwohnſt und den gewaltigen regelrechten Stiel ſiehſt,
deſſen eines Ende am Nabel des Kindes feſthängt, während
das andere eben noch an der Mutter ſaß, ſo biſt du hier
genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch
das der Verleger in Amerika ſeinen Reporter in Europa
„nährte“, als geradezu lächerliches Bild verworfen haben,
— und zwar nicht lächerlich, ſondern ernſthaft. Durch dieſes
dicke Kabel der Nabelſchnur iſt wirklich Monate lang das
Nährblut der Mutter übergefloſſen in ihr Kind und das Kind
hat mit dem Bauche daran geſogen wie ein Bandwurm. Ja
noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüſten der
Mutter buchſtäblich mit dem Munde ſeine Nahrung ab.

Dieſe letztere Handlung ſteht allerdings ſchon, wie ſehr
gut zu merken iſt, auf der Grenze zu einem Diſtanceakt.
Schon ſind wir Kulturmenſchen maſſenhaft dazu übergegangen,
aus dem Miſchakt hier einen regelrechten Diſtanceakt künſtlich
zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald
die fremde geſetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer
Art eingeſchoben; die Milch dieſes Tieres haben wir kondenſiert,
ſteriliſiert, auf Flaſchen gezogen und mit der Poſt über Land
verſendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken
wir eben bloß dem Umſtande, daß mit dem Auſtritt des Kindes
aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwiſchen Miſchakt
und Diſtanceakt für dieſen Fall zu verſchwimmen beginnt.
Wenig ſpäter: und Mutter und Kind ſind ohnehin nur noch
in einem Diſtanceverhältnis. Sie ſehen ſich durch Lichtwellen,
verſtändigen ſich nach und nach immer beſſer durch Schallwellen,
kurz ſie treten trotz aller intenſivſten, unabänderlich fortbe¬
ſtehenden Liebesgenoſſenſchaft miteinander dauernd in jenes
einfache Genoſſenſchaftsweſen ein, das mit jeglicher ſiphono¬
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[147/0163] Ganz anders das Liebeskind. Es bleibt zunächſt neun lange Monate echt ſiphonophoriſch verwachſen mit dem einen Partner des Liebes-Individuums, der Mutter. Wenn du einer Geburt beiwohnſt und den gewaltigen regelrechten Stiel ſiehſt, deſſen eines Ende am Nabel des Kindes feſthängt, während das andere eben noch an der Mutter ſaß, ſo biſt du hier genau auf dem, was wir oben bei dem Telegraphenkabel, durch das der Verleger in Amerika ſeinen Reporter in Europa „nährte“, als geradezu lächerliches Bild verworfen haben, — und zwar nicht lächerlich, ſondern ernſthaft. Durch dieſes dicke Kabel der Nabelſchnur iſt wirklich Monate lang das Nährblut der Mutter übergefloſſen in ihr Kind und das Kind hat mit dem Bauche daran geſogen wie ein Bandwurm. Ja noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüſten der Mutter buchſtäblich mit dem Munde ſeine Nahrung ab. Dieſe letztere Handlung ſteht allerdings ſchon, wie ſehr gut zu merken iſt, auf der Grenze zu einem Diſtanceakt. Schon ſind wir Kulturmenſchen maſſenhaft dazu übergegangen, aus dem Miſchakt hier einen regelrechten Diſtanceakt künſtlich zu machen. An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald die fremde geſetzt, bald ein milchendes Säugetier ganz anderer Art eingeſchoben; die Milch dieſes Tieres haben wir kondenſiert, ſteriliſiert, auf Flaſchen gezogen und mit der Poſt über Land verſendbar gemacht. Daß das aber möglich war, verdanken wir eben bloß dem Umſtande, daß mit dem Auſtritt des Kindes aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwiſchen Miſchakt und Diſtanceakt für dieſen Fall zu verſchwimmen beginnt. Wenig ſpäter: und Mutter und Kind ſind ohnehin nur noch in einem Diſtanceverhältnis. Sie ſehen ſich durch Lichtwellen, verſtändigen ſich nach und nach immer beſſer durch Schallwellen, kurz ſie treten trotz aller intenſivſten, unabänderlich fortbe¬ ſtehenden Liebesgenoſſenſchaft miteinander dauernd in jenes einfache Genoſſenſchaftsweſen ein, das mit jeglicher ſiphono¬ phoriſchen Miſchung ſchlechterdings gar nichts mehr zu thun hat. 10*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/163>, abgerufen am 22.11.2024.