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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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geeint hat. Aber es fragt sich im Einzelfall stets, wie weit
nun die Individualisierung der betreffenden Teile an sich schon
vorgeschritten war. Und da liegt die Sache bei dem Menschen¬
tier total anders als etwa bei einem Pflanzensproß oder
einer Qualle. Jener ganze Weg des Werdens zum Menschen,
den dir dein eigener Leib vorhin erzählt hat, ist ja im Grunde
nur eine fortgesetzte Arbeit zur Befreiung, zur Verstärkung
auch des Menschen-Individuums. Wie du dich in Urtagen
von der unmittelbaren mineralischen Ernährung der Pflanzen¬
stufe losgerungen hast. Wie du als Wurm dich dahinge¬
schlängelt hast, dir Augen und Ohren ausbildend, um deines¬
gleichen zu sehen und zu hören. Wie du aus dem immer
noch trägeren Element, dem Wasser, aufgestiegen bist ans Land,
ins Luftreich hinauf, und dir dort frei bewegliche tragende
Gliedmaßen gebildet hast, gleichzeitig deine Sinne wunder¬
bar schärfend und deine Kehle zur Lautäußerung einübend.
Wie du dich vom Klima emanzipiert hast durch die Bewegung
und die innere Körperheizung. Wie du endlich Hand und
Fuß dir geformt hast, diese wundervolle Doppelmöglichkeit, --
den Fuß, der dich trug, und die Hand, die dein Werkzeug
faßte ... Immer in all diesen Stufen ist ein Steigen,
Wachsen, Sichfestigen auch deiner Individualität, deines Einzel¬
seins als Person mitgegangen ... Die wurzelnde Pflanze
war noch ans Erdreich an bestimmtem Fleck gebunden; der
Fisch an seinen Wassertümpel; die Eidechse an Sommer und
Winter; der Affe an den Baumast, den seine vier Hände
umklammerten; du erst bist bis zu gewissen Grenzen ganz
frei, ganz auf dich gestellt. Denke dich als Robinson mit der
Summe aller Menschenweisheit auf eine einsame Insel und
du bist doch Herr der Insel. Du baust dir Werkzeuge und
erzeugst in ihnen ein sonst totes, aber in deiner Hand wie
von Gotteskraft belebtes Hilfsheer, wunderbarer als jene
Eisenstreiter, die dem Sagenhelden aus seinen Drachenzähnen
erwuchsen. Es ist der höchste Triumph der Individualisierung,

geeint hat. Aber es fragt ſich im Einzelfall ſtets, wie weit
nun die Individualiſierung der betreffenden Teile an ſich ſchon
vorgeſchritten war. Und da liegt die Sache bei dem Menſchen¬
tier total anders als etwa bei einem Pflanzenſproß oder
einer Qualle. Jener ganze Weg des Werdens zum Menſchen,
den dir dein eigener Leib vorhin erzählt hat, iſt ja im Grunde
nur eine fortgeſetzte Arbeit zur Befreiung, zur Verſtärkung
auch des Menſchen-Individuums. Wie du dich in Urtagen
von der unmittelbaren mineraliſchen Ernährung der Pflanzen¬
ſtufe losgerungen haſt. Wie du als Wurm dich dahinge¬
ſchlängelt haſt, dir Augen und Ohren ausbildend, um deines¬
gleichen zu ſehen und zu hören. Wie du aus dem immer
noch trägeren Element, dem Waſſer, aufgeſtiegen biſt ans Land,
ins Luftreich hinauf, und dir dort frei bewegliche tragende
Gliedmaßen gebildet haſt, gleichzeitig deine Sinne wunder¬
bar ſchärfend und deine Kehle zur Lautäußerung einübend.
Wie du dich vom Klima emanzipiert haſt durch die Bewegung
und die innere Körperheizung. Wie du endlich Hand und
Fuß dir geformt haſt, dieſe wundervolle Doppelmöglichkeit, —
den Fuß, der dich trug, und die Hand, die dein Werkzeug
faßte ... Immer in all dieſen Stufen iſt ein Steigen,
Wachſen, Sichfeſtigen auch deiner Individualität, deines Einzel¬
ſeins als Perſon mitgegangen ... Die wurzelnde Pflanze
war noch ans Erdreich an beſtimmtem Fleck gebunden; der
Fiſch an ſeinen Waſſertümpel; die Eidechſe an Sommer und
Winter; der Affe an den Baumaſt, den ſeine vier Hände
umklammerten; du erſt biſt bis zu gewiſſen Grenzen ganz
frei, ganz auf dich geſtellt. Denke dich als Robinſon mit der
Summe aller Menſchenweisheit auf eine einſame Inſel und
du biſt doch Herr der Inſel. Du bauſt dir Werkzeuge und
erzeugſt in ihnen ein ſonſt totes, aber in deiner Hand wie
von Gotteskraft belebtes Hilfsheer, wunderbarer als jene
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[130/0146] geeint hat. Aber es fragt ſich im Einzelfall ſtets, wie weit nun die Individualiſierung der betreffenden Teile an ſich ſchon vorgeſchritten war. Und da liegt die Sache bei dem Menſchen¬ tier total anders als etwa bei einem Pflanzenſproß oder einer Qualle. Jener ganze Weg des Werdens zum Menſchen, den dir dein eigener Leib vorhin erzählt hat, iſt ja im Grunde nur eine fortgeſetzte Arbeit zur Befreiung, zur Verſtärkung auch des Menſchen-Individuums. Wie du dich in Urtagen von der unmittelbaren mineraliſchen Ernährung der Pflanzen¬ ſtufe losgerungen haſt. Wie du als Wurm dich dahinge¬ ſchlängelt haſt, dir Augen und Ohren ausbildend, um deines¬ gleichen zu ſehen und zu hören. Wie du aus dem immer noch trägeren Element, dem Waſſer, aufgeſtiegen biſt ans Land, ins Luftreich hinauf, und dir dort frei bewegliche tragende Gliedmaßen gebildet haſt, gleichzeitig deine Sinne wunder¬ bar ſchärfend und deine Kehle zur Lautäußerung einübend. Wie du dich vom Klima emanzipiert haſt durch die Bewegung und die innere Körperheizung. Wie du endlich Hand und Fuß dir geformt haſt, dieſe wundervolle Doppelmöglichkeit, — den Fuß, der dich trug, und die Hand, die dein Werkzeug faßte ... Immer in all dieſen Stufen iſt ein Steigen, Wachſen, Sichfeſtigen auch deiner Individualität, deines Einzel¬ ſeins als Perſon mitgegangen ... Die wurzelnde Pflanze war noch ans Erdreich an beſtimmtem Fleck gebunden; der Fiſch an ſeinen Waſſertümpel; die Eidechſe an Sommer und Winter; der Affe an den Baumaſt, den ſeine vier Hände umklammerten; du erſt biſt bis zu gewiſſen Grenzen ganz frei, ganz auf dich geſtellt. Denke dich als Robinſon mit der Summe aller Menſchenweisheit auf eine einſame Inſel und du biſt doch Herr der Inſel. Du bauſt dir Werkzeuge und erzeugſt in ihnen ein ſonſt totes, aber in deiner Hand wie von Gotteskraft belebtes Hilfsheer, wunderbarer als jene Eiſenſtreiter, die dem Sagenhelden aus ſeinen Drachenzähnen erwuchſen. Es iſt der höchſte Triumph der Individualiſierung,

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/146>, abgerufen am 02.05.2024.