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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Kälte ihre volle Lebensfrische sich wahren. Aber wenn sie so
weit war, so war sie eben keine alte echte Eidechse mehr. Ein
Tier mit warmem Blut und Federn: das war der Schritt zum
Vogel. Ein Tier mit warmem Blut und Haaren: das war
der Schritt zum Säugetier.

Haar und Feder schließen sich aus. Hier liegen zwei
verschiedene Wege, einer so, einer so. Wohin gehörst du?

Laß deine Kleider einstweilen noch einmal bei Seite und
frage deinen nackten Leib. Du hast keinen leisesten Ansatz zu
Federn. Dagegen hast du am Kopf, unter den Achseln und
über dem Geschlechtsteil ganz unzweideutige inselartige Flecken
auf dir noch von Wollhaar. Und wenn du genau hinschaust,
so siehst du auch sonst deinen Leib allenthalben noch wenigstens
mit Miniatur-Härchen dicht überzogen, die allerdings aus irgend
einem Grunde verkümmert und wieder bis auf die Stufe mehr
von feinsten Tastspitzchen statt eigentlichen Wärme-Schutzhaaren
herabgegangen sind.

Ein Haartier bist du, kein Vogel. Der Vogel ist eine
Separat-Anpassung für die Luft. Aus springenden Eidechsen,
die von Baum zu Baum sausten, ist er geworden. Bei ihm
erhielt die Warmblütigkeit noch eine besondere Ausdehnung nach
einer Seite, wie sie im Wasser der Fisch sich durch die Schwimm¬
blase errungen hat. Der Vogel füllte seine hohlen Knochen
mit heißer Luft und entwickelte so Eigenschaften eines echten
Luftballons. Gleichzeitig machte er aus seinem äußeren Wärme¬
schutzmittel, der neu errungenen Feder, sofort auch noch ein
Bewegungsvehikel: er vergrößerte sie zur Schwungfeder, bildete
seine Vorderbeine zu einer kunstvollen Stütze dieser Bewegungs¬
federn um und erreichte so durch Kombination von Luftballon
und Schwungflügel sein höchstes Entwickelungsziel, über das er
nicht mehr hinausgekommen ist: den Flug. Der Flug hatte ja
letzten Endes noch wieder seinen Gewinn umgekehrt auch für
die Wärme-Frage; mit ihm war dem Vogel gegeben, der
äußersten Winterkälte einfach auch noch durch Bewegung, durch

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Kälte ihre volle Lebensfriſche ſich wahren. Aber wenn ſie ſo
weit war, ſo war ſie eben keine alte echte Eidechſe mehr. Ein
Tier mit warmem Blut und Federn: das war der Schritt zum
Vogel. Ein Tier mit warmem Blut und Haaren: das war
der Schritt zum Säugetier.

Haar und Feder ſchließen ſich aus. Hier liegen zwei
verſchiedene Wege, einer ſo, einer ſo. Wohin gehörſt du?

Laß deine Kleider einſtweilen noch einmal bei Seite und
frage deinen nackten Leib. Du haſt keinen leiſeſten Anſatz zu
Federn. Dagegen haſt du am Kopf, unter den Achſeln und
über dem Geſchlechtsteil ganz unzweideutige inſelartige Flecken
auf dir noch von Wollhaar. Und wenn du genau hinſchauſt,
ſo ſiehſt du auch ſonſt deinen Leib allenthalben noch wenigſtens
mit Miniatur-Härchen dicht überzogen, die allerdings aus irgend
einem Grunde verkümmert und wieder bis auf die Stufe mehr
von feinſten Taſtſpitzchen ſtatt eigentlichen Wärme-Schutzhaaren
herabgegangen ſind.

Ein Haartier biſt du, kein Vogel. Der Vogel iſt eine
Separat-Anpaſſung für die Luft. Aus ſpringenden Eidechſen,
die von Baum zu Baum ſauſten, iſt er geworden. Bei ihm
erhielt die Warmblütigkeit noch eine beſondere Ausdehnung nach
einer Seite, wie ſie im Waſſer der Fiſch ſich durch die Schwimm¬
blaſe errungen hat. Der Vogel füllte ſeine hohlen Knochen
mit heißer Luft und entwickelte ſo Eigenſchaften eines echten
Luftballons. Gleichzeitig machte er aus ſeinem äußeren Wärme¬
ſchutzmittel, der neu errungenen Feder, ſofort auch noch ein
Bewegungsvehikel: er vergrößerte ſie zur Schwungfeder, bildete
ſeine Vorderbeine zu einer kunſtvollen Stütze dieſer Bewegungs¬
federn um und erreichte ſo durch Kombination von Luftballon
und Schwungflügel ſein höchſtes Entwickelungsziel, über das er
nicht mehr hinausgekommen iſt: den Flug. Der Flug hatte ja
letzten Endes noch wieder ſeinen Gewinn umgekehrt auch für
die Wärme-Frage; mit ihm war dem Vogel gegeben, der
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[97/0113] Kälte ihre volle Lebensfriſche ſich wahren. Aber wenn ſie ſo weit war, ſo war ſie eben keine alte echte Eidechſe mehr. Ein Tier mit warmem Blut und Federn: das war der Schritt zum Vogel. Ein Tier mit warmem Blut und Haaren: das war der Schritt zum Säugetier. Haar und Feder ſchließen ſich aus. Hier liegen zwei verſchiedene Wege, einer ſo, einer ſo. Wohin gehörſt du? Laß deine Kleider einſtweilen noch einmal bei Seite und frage deinen nackten Leib. Du haſt keinen leiſeſten Anſatz zu Federn. Dagegen haſt du am Kopf, unter den Achſeln und über dem Geſchlechtsteil ganz unzweideutige inſelartige Flecken auf dir noch von Wollhaar. Und wenn du genau hinſchauſt, ſo ſiehſt du auch ſonſt deinen Leib allenthalben noch wenigſtens mit Miniatur-Härchen dicht überzogen, die allerdings aus irgend einem Grunde verkümmert und wieder bis auf die Stufe mehr von feinſten Taſtſpitzchen ſtatt eigentlichen Wärme-Schutzhaaren herabgegangen ſind. Ein Haartier biſt du, kein Vogel. Der Vogel iſt eine Separat-Anpaſſung für die Luft. Aus ſpringenden Eidechſen, die von Baum zu Baum ſauſten, iſt er geworden. Bei ihm erhielt die Warmblütigkeit noch eine beſondere Ausdehnung nach einer Seite, wie ſie im Waſſer der Fiſch ſich durch die Schwimm¬ blaſe errungen hat. Der Vogel füllte ſeine hohlen Knochen mit heißer Luft und entwickelte ſo Eigenſchaften eines echten Luftballons. Gleichzeitig machte er aus ſeinem äußeren Wärme¬ ſchutzmittel, der neu errungenen Feder, ſofort auch noch ein Bewegungsvehikel: er vergrößerte ſie zur Schwungfeder, bildete ſeine Vorderbeine zu einer kunſtvollen Stütze dieſer Bewegungs¬ federn um und erreichte ſo durch Kombination von Luftballon und Schwungflügel ſein höchſtes Entwickelungsziel, über das er nicht mehr hinausgekommen iſt: den Flug. Der Flug hatte ja letzten Endes noch wieder ſeinen Gewinn umgekehrt auch für die Wärme-Frage; mit ihm war dem Vogel gegeben, der äußerſten Winterkälte einfach auch noch durch Bewegung, durch 7

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/113>, abgerufen am 22.11.2024.