Auf dem Lande! Das ist wieder ein Leitwort. Wohl -- wie du da im Grase liegst und Arme und Beine in die erste heiße Frühlingssonne streckst: Du bist ein Wirbeltier oberhalb des Haifisches, weil du Arme und Beine hast. Aber oberhalb dieses Menschenhaies dehnen sich neue Straßen. Es giebt einen purpurnen Dämmerraum, wo auch du als werdendes Menschlein einmal bloß solche vier knospenhaften Leibes-Flossen trugst wie der wirkliche Hai: als Embryo im Mutterleibe auf bestimmter Stufe. Aber das hast du als Individuum längst hinter dir, wie die gesamte Menschheit den Hai. Du bist als vollendeter Mensch kein Hai mehr. Ja überhaupt nicht mehr ein Fisch. Alles Fischechte geht aus vom Hai. Da kommen unzählige Gestalten. Der Stör, der Aal, der Wels und der Hecht. Alles im Wasser, alles dem Wasser angepaßt, alles mit Flossen bald dieser, bald jener Form. Bei dir aber sind die Flossen ja wirklich Landgliedmaßen geworden. Wie geschah das? Wo¬ her kam der Begriff "Land"?
Dein weiser Leib weiß es an einer anderen Stelle. Nur wenig im System oberhalb des Haies, dicht an der Grenze, wo der Hai zunächst zum Stör vorschreitet -- da ist ganz deutlich vorgezeichnet die neue Ecke für dich.
Du liegst am Lande hier. Goldene Frühlingsluft um¬ strömt dich wie ein Himmelsbad. Du nimmst sie auf mit dem Munde. An der gleichen Stelle, wo dein Darm nach oben sich öffnet zum Schlunde -- da, wo die uralte Schlauchpforte der Gasträa, des Polypen, des Wurmes liegt -- da saugst du auch diese Luft in dich ein. Aber sie sinkt hier nicht bloß in
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Auf dem Lande! Das iſt wieder ein Leitwort. Wohl — wie du da im Graſe liegſt und Arme und Beine in die erſte heiße Frühlingsſonne ſtreckſt: Du biſt ein Wirbeltier oberhalb des Haifiſches, weil du Arme und Beine haſt. Aber oberhalb dieſes Menſchenhaies dehnen ſich neue Straßen. Es giebt einen purpurnen Dämmerraum, wo auch du als werdendes Menſchlein einmal bloß ſolche vier knoſpenhaften Leibes-Floſſen trugſt wie der wirkliche Hai: als Embryo im Mutterleibe auf beſtimmter Stufe. Aber das haſt du als Individuum längſt hinter dir, wie die geſamte Menſchheit den Hai. Du biſt als vollendeter Menſch kein Hai mehr. Ja überhaupt nicht mehr ein Fiſch. Alles Fiſchechte geht aus vom Hai. Da kommen unzählige Geſtalten. Der Stör, der Aal, der Wels und der Hecht. Alles im Waſſer, alles dem Waſſer angepaßt, alles mit Floſſen bald dieſer, bald jener Form. Bei dir aber ſind die Floſſen ja wirklich Landgliedmaßen geworden. Wie geſchah das? Wo¬ her kam der Begriff „Land“?
Dein weiſer Leib weiß es an einer anderen Stelle. Nur wenig im Syſtem oberhalb des Haies, dicht an der Grenze, wo der Hai zunächſt zum Stör vorſchreitet — da iſt ganz deutlich vorgezeichnet die neue Ecke für dich.
Du liegſt am Lande hier. Goldene Frühlingsluft um¬ ſtrömt dich wie ein Himmelsbad. Du nimmſt ſie auf mit dem Munde. An der gleichen Stelle, wo dein Darm nach oben ſich öffnet zum Schlunde — da, wo die uralte Schlauchpforte der Gaſträa, des Polypen, des Wurmes liegt — da ſaugſt du auch dieſe Luft in dich ein. Aber ſie ſinkt hier nicht bloß in
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Auf dem Lande! Das iſt wieder ein Leitwort. Wohl —
wie du da im Graſe liegſt und Arme und Beine in die erſte
heiße Frühlingsſonne ſtreckſt: Du biſt ein Wirbeltier oberhalb
des Haifiſches, weil du Arme und Beine haſt. Aber oberhalb
dieſes Menſchenhaies dehnen ſich neue Straßen. Es giebt einen
purpurnen Dämmerraum, wo auch du als werdendes Menſchlein
einmal bloß ſolche vier knoſpenhaften Leibes-Floſſen trugſt wie
der wirkliche Hai: als Embryo im Mutterleibe auf beſtimmter
Stufe. Aber das haſt du als Individuum längſt hinter dir,
wie die geſamte Menſchheit den Hai. Du biſt als vollendeter
Menſch kein Hai mehr. Ja überhaupt nicht mehr ein Fiſch.
Alles Fiſchechte geht aus vom Hai. Da kommen unzählige
Geſtalten. Der Stör, der Aal, der Wels und der Hecht.
Alles im Waſſer, alles dem Waſſer angepaßt, alles mit Floſſen
bald dieſer, bald jener Form. Bei dir aber ſind die Floſſen
ja wirklich Landgliedmaßen geworden. Wie geſchah das? Wo¬
her kam der Begriff „Land“?
Dein weiſer Leib weiß es an einer anderen Stelle. Nur
wenig im Syſtem oberhalb des Haies, dicht an der Grenze,
wo der Hai zunächſt zum Stör vorſchreitet — da iſt ganz
deutlich vorgezeichnet die neue Ecke für dich.
Du liegſt am Lande hier. Goldene Frühlingsluft um¬
ſtrömt dich wie ein Himmelsbad. Du nimmſt ſie auf mit dem
Munde. An der gleichen Stelle, wo dein Darm nach oben
ſich öffnet zum Schlunde — da, wo die uralte Schlauchpforte
der Gaſträa, des Polypen, des Wurmes liegt — da ſaugſt du
auch dieſe Luft in dich ein. Aber ſie ſinkt hier nicht bloß in
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/101>, abgerufen am 22.11.2024.
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