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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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ahnten. Aber einerlei: die Meilenziffern schon für einzelne
noch halbwegs meßbare Fixsterne sind so enorm, daß der
kühnste kosmische Phantast Frieden finden mag.

Das ist der Raum, in den dich der Naturforscher wirft --
wirft, weil du und wir alle ein Gewürm dieser dicken Kugel
Erde sind, die seit undenklichen Tagen in den Raum hinein¬
geworfen ist und, getroffen von den tausend und tausend Licht¬
wellen all der näheren und ferneren Silberwelten da draußen,
ihre lange elliptische Wurfbahn um die Sonne abfliegt nach
genau demselben Gesetz, das auf ihr selbst eine Kanonenkugel
fliegen läßt.

Nicht minder ungeheuerlich die Zeit. Als die Menschen
noch als braves Gewächshausobst eines mystischen Gärtner¬
zwecks unter der sicheren blauen Kristallglocke saßen, war auch
das Zählen in die Vergangenheit hinein noch ein schlichtes
Vergnügen. Ein paar tausend Jahre zurück. Dann hörten
auch die strengsten Aristokraten-Stammbäume auf. Das Ge¬
wimmel der Völker schwand, und aus dem uferlosen Blau
stieg ein blumenbunter Garten. Adam und Eva küßten sich --
heilige Stille eines Weltenmorgens -- bloß das lautlose
Schleichen der Schlange, mit der all das unsägliche Elend der
Folgezeit über die taufeuchte Paradieswiese kroch. Noch eine
kürzeste Spanne zurück -- und Gott warf die Erde in den
Raum, die Sonne an das bebende Firmament, mit jenem
grandiosen Schöpferschwung, den Michel Angelo, als er das
Bild an der Decke der sixtinischen Kapelle schuf, vielleicht allein
von allen Gläubigen und Ungläubigen der christlich-dogma¬
tischen Ära ganz an sich selbst empfunden und künstlerisch
wiedergegeben hat.

Nicht die Kunst und individuelle Vorstellungskraft jenes
unsterblichen Deckenbildes hat die Forschung heute überwunden.
Aber die ideelle Decke, die in der ganzen Tradition als einer
angeblich wahren Geschichtstradition lag, hat sie eingestoßen mit
eiserner Hand. Hinter den paar tausend Jahren der Mensch¬

ahnten. Aber einerlei: die Meilenziffern ſchon für einzelne
noch halbwegs meßbare Fixſterne ſind ſo enorm, daß der
kühnſte kosmiſche Phantaſt Frieden finden mag.

Das iſt der Raum, in den dich der Naturforſcher wirft —
wirft, weil du und wir alle ein Gewürm dieſer dicken Kugel
Erde ſind, die ſeit undenklichen Tagen in den Raum hinein¬
geworfen iſt und, getroffen von den tauſend und tauſend Licht¬
wellen all der näheren und ferneren Silberwelten da draußen,
ihre lange elliptiſche Wurfbahn um die Sonne abfliegt nach
genau demſelben Geſetz, das auf ihr ſelbſt eine Kanonenkugel
fliegen läßt.

Nicht minder ungeheuerlich die Zeit. Als die Menſchen
noch als braves Gewächshausobſt eines myſtiſchen Gärtner¬
zwecks unter der ſicheren blauen Kriſtallglocke ſaßen, war auch
das Zählen in die Vergangenheit hinein noch ein ſchlichtes
Vergnügen. Ein paar tauſend Jahre zurück. Dann hörten
auch die ſtrengſten Ariſtokraten-Stammbäume auf. Das Ge¬
wimmel der Völker ſchwand, und aus dem uferloſen Blau
ſtieg ein blumenbunter Garten. Adam und Eva küßten ſich —
heilige Stille eines Weltenmorgens — bloß das lautloſe
Schleichen der Schlange, mit der all das unſägliche Elend der
Folgezeit über die taufeuchte Paradieswieſe kroch. Noch eine
kürzeſte Spanne zurück — und Gott warf die Erde in den
Raum, die Sonne an das bebende Firmament, mit jenem
grandioſen Schöpferſchwung, den Michel Angelo, als er das
Bild an der Decke der ſixtiniſchen Kapelle ſchuf, vielleicht allein
von allen Gläubigen und Ungläubigen der chriſtlich-dogma¬
tiſchen Ära ganz an ſich ſelbſt empfunden und künſtleriſch
wiedergegeben hat.

Nicht die Kunſt und individuelle Vorſtellungskraft jenes
unſterblichen Deckenbildes hat die Forſchung heute überwunden.
Aber die ideelle Decke, die in der ganzen Tradition als einer
angeblich wahren Geſchichtstradition lag, hat ſie eingeſtoßen mit
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[78/0094] ahnten. Aber einerlei: die Meilenziffern ſchon für einzelne noch halbwegs meßbare Fixſterne ſind ſo enorm, daß der kühnſte kosmiſche Phantaſt Frieden finden mag. Das iſt der Raum, in den dich der Naturforſcher wirft — wirft, weil du und wir alle ein Gewürm dieſer dicken Kugel Erde ſind, die ſeit undenklichen Tagen in den Raum hinein¬ geworfen iſt und, getroffen von den tauſend und tauſend Licht¬ wellen all der näheren und ferneren Silberwelten da draußen, ihre lange elliptiſche Wurfbahn um die Sonne abfliegt nach genau demſelben Geſetz, das auf ihr ſelbſt eine Kanonenkugel fliegen läßt. Nicht minder ungeheuerlich die Zeit. Als die Menſchen noch als braves Gewächshausobſt eines myſtiſchen Gärtner¬ zwecks unter der ſicheren blauen Kriſtallglocke ſaßen, war auch das Zählen in die Vergangenheit hinein noch ein ſchlichtes Vergnügen. Ein paar tauſend Jahre zurück. Dann hörten auch die ſtrengſten Ariſtokraten-Stammbäume auf. Das Ge¬ wimmel der Völker ſchwand, und aus dem uferloſen Blau ſtieg ein blumenbunter Garten. Adam und Eva küßten ſich — heilige Stille eines Weltenmorgens — bloß das lautloſe Schleichen der Schlange, mit der all das unſägliche Elend der Folgezeit über die taufeuchte Paradieswieſe kroch. Noch eine kürzeſte Spanne zurück — und Gott warf die Erde in den Raum, die Sonne an das bebende Firmament, mit jenem grandioſen Schöpferſchwung, den Michel Angelo, als er das Bild an der Decke der ſixtiniſchen Kapelle ſchuf, vielleicht allein von allen Gläubigen und Ungläubigen der chriſtlich-dogma¬ tiſchen Ära ganz an ſich ſelbſt empfunden und künſtleriſch wiedergegeben hat. Nicht die Kunſt und individuelle Vorſtellungskraft jenes unſterblichen Deckenbildes hat die Forſchung heute überwunden. Aber die ideelle Decke, die in der ganzen Tradition als einer angeblich wahren Geſchichtstradition lag, hat ſie eingeſtoßen mit eiſerner Hand. Hinter den paar tauſend Jahren der Menſch¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/94>, abgerufen am 24.11.2024.