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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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die eine jener Grundthatsachen der menschlichen Existenz voll¬
kommen umzudeuten. Sie läßt den Tod nicht als Abschluß zu.
Er darf nur eine eigentümliche Entwickelungsstufe in der Welten¬
wallfahrt des Individuums sein. Eine Entwickelungsstufe, bei
der es nur einfach aus dem Gesichtskreise der noch nicht so
hoch Entwickelten, also der Lebenden, verschwindet, ohne des¬
halb unterzugehen. Die sichtbare Lebenszeit, mit ihren fünfzig
bis hundert Jahren oder noch weniger, ist in diesem Sinne
nur eine flüchtige Konstellation, -- der wahre Stern des
Individuums aber leuchtet über die Jahrtausende. Er hat seine
verborgene Sonne, um die er kreist, -- fester kreist als ein
Planet um die sichtbare Sonne unseres Systems. Der Planet
kann abstürzen, aufflammen: das unsterbliche Individuum nie.
Mit einer ungeheuren Energie hat sich diese Fassung der Dinge
durch das Denken der Menschheit gekämpft. Getragen von dem
ganzen Trotz der Individuen, die sich auflehnten dagegen, daß
die Welt, dieses bunte Kaleidoskop da draußen, ewig sein sollte,
das Ich aber, das ein König über diesen fluchtartig sausenden
Dingen zu stehen schien, eines Tages wie ein wertloses Blatt
vom Baume dieser Welt fallen soll. Getragen von dem tief¬
innerlichen Gefühl einer Unlogik des Geschehens, die man sich
nicht aufzwingen lassen wollte. In den wunderbarsten idealen
Denkformen ist dieser Gedanke aufgestiegen, wie in den banalsten.
Von Plato, für den die irdische Realität des Individuums nur
ein rasch verrinnender, bleicher Traum war in einer viel höheren
Idealexistenz jenseits von Zeit und Raum, bis auf den großen
Fechner, der zu den mechanischen Wellen, die von jedem In¬
dividuum je einmal ausgestrahlt sind und als Nachwirkung auch
nach seinem Tode noch unendlich weiterrollen in der Mechanik
der Welt, eine parallel erweiterte Psyche über den Tod hinaus
ahnte. Aber auch bis auf das arme Bild herunter von einem
Schulhaus, wo nach dem Semesterschluß der Lehrer Zensuren
austeilt, und die Schüler Strafe für das bekommen, was
ihnen nicht genügend beigebracht worden ist.

die eine jener Grundthatſachen der menſchlichen Exiſtenz voll¬
kommen umzudeuten. Sie läßt den Tod nicht als Abſchluß zu.
Er darf nur eine eigentümliche Entwickelungsſtufe in der Welten¬
wallfahrt des Individuums ſein. Eine Entwickelungsſtufe, bei
der es nur einfach aus dem Geſichtskreiſe der noch nicht ſo
hoch Entwickelten, alſo der Lebenden, verſchwindet, ohne des¬
halb unterzugehen. Die ſichtbare Lebenszeit, mit ihren fünfzig
bis hundert Jahren oder noch weniger, iſt in dieſem Sinne
nur eine flüchtige Konſtellation, — der wahre Stern des
Individuums aber leuchtet über die Jahrtauſende. Er hat ſeine
verborgene Sonne, um die er kreiſt, — feſter kreiſt als ein
Planet um die ſichtbare Sonne unſeres Syſtems. Der Planet
kann abſtürzen, aufflammen: das unſterbliche Individuum nie.
Mit einer ungeheuren Energie hat ſich dieſe Faſſung der Dinge
durch das Denken der Menſchheit gekämpft. Getragen von dem
ganzen Trotz der Individuen, die ſich auflehnten dagegen, daß
die Welt, dieſes bunte Kaleidoſkop da draußen, ewig ſein ſollte,
das Ich aber, das ein König über dieſen fluchtartig ſauſenden
Dingen zu ſtehen ſchien, eines Tages wie ein wertloſes Blatt
vom Baume dieſer Welt fallen ſoll. Getragen von dem tief¬
innerlichen Gefühl einer Unlogik des Geſchehens, die man ſich
nicht aufzwingen laſſen wollte. In den wunderbarſten idealen
Denkformen iſt dieſer Gedanke aufgeſtiegen, wie in den banalſten.
Von Plato, für den die irdiſche Realität des Individuums nur
ein raſch verrinnender, bleicher Traum war in einer viel höheren
Idealexiſtenz jenſeits von Zeit und Raum, bis auf den großen
Fechner, der zu den mechaniſchen Wellen, die von jedem In¬
dividuum je einmal ausgeſtrahlt ſind und als Nachwirkung auch
nach ſeinem Tode noch unendlich weiterrollen in der Mechanik
der Welt, eine parallel erweiterte Pſyche über den Tod hinaus
ahnte. Aber auch bis auf das arme Bild herunter von einem
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austeilt, und die Schüler Strafe für das bekommen, was
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[71/0087] die eine jener Grundthatſachen der menſchlichen Exiſtenz voll¬ kommen umzudeuten. Sie läßt den Tod nicht als Abſchluß zu. Er darf nur eine eigentümliche Entwickelungsſtufe in der Welten¬ wallfahrt des Individuums ſein. Eine Entwickelungsſtufe, bei der es nur einfach aus dem Geſichtskreiſe der noch nicht ſo hoch Entwickelten, alſo der Lebenden, verſchwindet, ohne des¬ halb unterzugehen. Die ſichtbare Lebenszeit, mit ihren fünfzig bis hundert Jahren oder noch weniger, iſt in dieſem Sinne nur eine flüchtige Konſtellation, — der wahre Stern des Individuums aber leuchtet über die Jahrtauſende. Er hat ſeine verborgene Sonne, um die er kreiſt, — feſter kreiſt als ein Planet um die ſichtbare Sonne unſeres Syſtems. Der Planet kann abſtürzen, aufflammen: das unſterbliche Individuum nie. Mit einer ungeheuren Energie hat ſich dieſe Faſſung der Dinge durch das Denken der Menſchheit gekämpft. Getragen von dem ganzen Trotz der Individuen, die ſich auflehnten dagegen, daß die Welt, dieſes bunte Kaleidoſkop da draußen, ewig ſein ſollte, das Ich aber, das ein König über dieſen fluchtartig ſauſenden Dingen zu ſtehen ſchien, eines Tages wie ein wertloſes Blatt vom Baume dieſer Welt fallen ſoll. Getragen von dem tief¬ innerlichen Gefühl einer Unlogik des Geſchehens, die man ſich nicht aufzwingen laſſen wollte. In den wunderbarſten idealen Denkformen iſt dieſer Gedanke aufgeſtiegen, wie in den banalſten. Von Plato, für den die irdiſche Realität des Individuums nur ein raſch verrinnender, bleicher Traum war in einer viel höheren Idealexiſtenz jenſeits von Zeit und Raum, bis auf den großen Fechner, der zu den mechaniſchen Wellen, die von jedem In¬ dividuum je einmal ausgeſtrahlt ſind und als Nachwirkung auch nach ſeinem Tode noch unendlich weiterrollen in der Mechanik der Welt, eine parallel erweiterte Pſyche über den Tod hinaus ahnte. Aber auch bis auf das arme Bild herunter von einem Schulhaus, wo nach dem Semeſterſchluß der Lehrer Zenſuren austeilt, und die Schüler Strafe für das bekommen, was ihnen nicht genügend beigebracht worden iſt.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/87>, abgerufen am 23.11.2024.