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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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schlug. Heute steht die Brücke als vollendeter Bau im
prangenden Licht. Aber unten am Eckpfeiler steht noch immer
der Mann und stößt und stößt den Spaten ein, thut ewig
von neuem den ersten Spatenstich. Die Spinne ist ein solcher
Mann .....

Die Spinne hat noch heute nicht fest begriffen, daß man
den Gegenstand seiner Liebe, mit dessen Leben man zur Un¬
sterblichkeit der Gattung zusammenfließen soll in idealstem Liebes¬
mahl, nicht gleichzeitig als fetten Nahrungsbrocken für den
profanen Alltagsmagen lüstern beäugeln darf.

"Spinn, Spinne, Töchterlein, morgen kommt der Freier
dein." Ein merkwürdiges Töchterlein und eine bedenkliche
Freite fürwahr!

Da sind Spinne und Spinnerich. Beide vom Geschlecht
der Kreuzspinnen.

Er verdient an zweiter Stelle genannt zu werden, denn
er ist wesentlich kleiner als sie, etwa nur zwei Drittel so groß.
Ein schöner Septembermorgen steht über uns. Im Garten
recken die reifen Sonnenblumen ihre Goldarme zum klaren
Herbstblau. Astern glühen im Grase wie rot und blaue
Doppelsterne. Über dem alten morschen grünen Zaun der
ernste Kiefernwald, die Kronen wie von grauem Rauch über¬
schwelt, ein verdämmerndes Märchen. Und an diesem Zaun
hier und dort ein großes Netz. Seit langen Monaten treiben
Spinnen hier ihr Wesen, Männlein und Weiblein. Aber jedes
für sich, unnahbar, spinnefeind auch dem Nachbar vom
eigenen Volk.

Jede dieser Spinnen ist auf der Höhe ihrer Bahn. Sie
hat ein langes Leben hinter sich, ein Leben voll Kraft und
Arbeit. Lang freilich nur im Spinnensinn, der die Zeit unter

ſchlug. Heute ſteht die Brücke als vollendeter Bau im
prangenden Licht. Aber unten am Eckpfeiler ſteht noch immer
der Mann und ſtößt und ſtößt den Spaten ein, thut ewig
von neuem den erſten Spatenſtich. Die Spinne iſt ein ſolcher
Mann .....

Die Spinne hat noch heute nicht feſt begriffen, daß man
den Gegenſtand ſeiner Liebe, mit deſſen Leben man zur Un¬
ſterblichkeit der Gattung zuſammenfließen ſoll in idealſtem Liebes¬
mahl, nicht gleichzeitig als fetten Nahrungsbrocken für den
profanen Alltagsmagen lüſtern beäugeln darf.

„Spinn, Spinne, Töchterlein, morgen kommt der Freier
dein.“ Ein merkwürdiges Töchterlein und eine bedenkliche
Freite fürwahr!

Da ſind Spinne und Spinnerich. Beide vom Geſchlecht
der Kreuzſpinnen.

Er verdient an zweiter Stelle genannt zu werden, denn
er iſt weſentlich kleiner als ſie, etwa nur zwei Drittel ſo groß.
Ein ſchöner Septembermorgen ſteht über uns. Im Garten
recken die reifen Sonnenblumen ihre Goldarme zum klaren
Herbſtblau. Aſtern glühen im Graſe wie rot und blaue
Doppelſterne. Über dem alten morſchen grünen Zaun der
ernſte Kiefernwald, die Kronen wie von grauem Rauch über¬
ſchwelt, ein verdämmerndes Märchen. Und an dieſem Zaun
hier und dort ein großes Netz. Seit langen Monaten treiben
Spinnen hier ihr Weſen, Männlein und Weiblein. Aber jedes
für ſich, unnahbar, ſpinnefeind auch dem Nachbar vom
eigenen Volk.

Jede dieſer Spinnen iſt auf der Höhe ihrer Bahn. Sie
hat ein langes Leben hinter ſich, ein Leben voll Kraft und
Arbeit. Lang freilich nur im Spinnenſinn, der die Zeit unter

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[328/0344] ſchlug. Heute ſteht die Brücke als vollendeter Bau im prangenden Licht. Aber unten am Eckpfeiler ſteht noch immer der Mann und ſtößt und ſtößt den Spaten ein, thut ewig von neuem den erſten Spatenſtich. Die Spinne iſt ein ſolcher Mann ..... Die Spinne hat noch heute nicht feſt begriffen, daß man den Gegenſtand ſeiner Liebe, mit deſſen Leben man zur Un¬ ſterblichkeit der Gattung zuſammenfließen ſoll in idealſtem Liebes¬ mahl, nicht gleichzeitig als fetten Nahrungsbrocken für den profanen Alltagsmagen lüſtern beäugeln darf. „Spinn, Spinne, Töchterlein, morgen kommt der Freier dein.“ Ein merkwürdiges Töchterlein und eine bedenkliche Freite fürwahr! Da ſind Spinne und Spinnerich. Beide vom Geſchlecht der Kreuzſpinnen. Er verdient an zweiter Stelle genannt zu werden, denn er iſt weſentlich kleiner als ſie, etwa nur zwei Drittel ſo groß. Ein ſchöner Septembermorgen ſteht über uns. Im Garten recken die reifen Sonnenblumen ihre Goldarme zum klaren Herbſtblau. Aſtern glühen im Graſe wie rot und blaue Doppelſterne. Über dem alten morſchen grünen Zaun der ernſte Kiefernwald, die Kronen wie von grauem Rauch über¬ ſchwelt, ein verdämmerndes Märchen. Und an dieſem Zaun hier und dort ein großes Netz. Seit langen Monaten treiben Spinnen hier ihr Weſen, Männlein und Weiblein. Aber jedes für ſich, unnahbar, ſpinnefeind auch dem Nachbar vom eigenen Volk. Jede dieſer Spinnen iſt auf der Höhe ihrer Bahn. Sie hat ein langes Leben hinter ſich, ein Leben voll Kraft und Arbeit. Lang freilich nur im Spinnenſinn, der die Zeit unter

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/344>, abgerufen am 12.05.2024.