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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Regungen so unerforscht, daß man nicht zuviel Schlüsse daran
knüpfen sollte. Jetzt sieh dir aber folgenden Fall an.

Der nächste Verwandte des Seeigels ist der Seestern.

Auch ein Stachelhäuter, wenn schon ohne die runde
stachelichte Fruchtschale des Igels. Habe ich dich beim Seeigel
gebeten, dir einen dicken Wurm zu denken, den einer zum
Klumpen in der Faust zerquetscht hat, so zerre dir jetzt in der
Phantasie einen Wurm in Zacken auseinander, bis er aus¬
schaut, als habe er fünf junge Würmer aus sich erzeugt, die
aber unten noch mit ihm zusammenhingen und einen regel¬
rechten Wurmstern erzeugten. Das Bild ist um so erlaubter,
als Naturforscher ersten Ranges sich zeitweilig der Idee hin¬
gegeben haben, es möchte der Seestern geschichtlich gerade so
entstanden sein: durch Zusammenwachsen von fünf Einzel¬
würmern; die Hypothese ist allerdings heute wieder verlassen.

Ein solcher Seestern, in erwachsenem, geschlechtsreifem Zu¬
stande, ist nun ganz unzweideutig ein wohl entwickeltes, seelisch
wie körperlich schlechterdings einheitliches "Individuum". Seine
Jugendentwickelung vollzog sich ähnlich wie beim Seeigel: auch
er hat schon einmal seiner eigenen Mutteramme bei lebendigem
Leibe den Magen fortstibizt und den überflüssigen Mutterleib
dann wie eine Nachtmütze sich vom Kopfe gestreift. Aber dann
ist er "einheitlich" geblieben in des Wortes striktester Bedeu¬
tung und ist, alles in allem gerechnet, einfach ein Individuum,
wie du selber eins bist.

Obwohl ein solcher Seestern in der Form, wie man ihn
am Strande findet, starr wie eine Apfelsinenschale erscheint,
darf man sich doch nicht darüber täuschen, daß er sein ganz
wohl entwickeltes tierisches Seelenleben zeigt. Ein komplizierter
Nervenapparat mit einem großen Nervenring, von dem Nerven¬
stränge strahlig ausgehen, zeigt ihn als straffe seelische Einheit.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Stachelhäutern besitzt er
sogar deutlich erkennbare Augen in Gestalt lichtbrechender roter
Punkte an den Spitzen der Arme. Weit entfernt, ein passiver

Regungen ſo unerforſcht, daß man nicht zuviel Schlüſſe daran
knüpfen ſollte. Jetzt ſieh dir aber folgenden Fall an.

Der nächſte Verwandte des Seeigels iſt der Seeſtern.

Auch ein Stachelhäuter, wenn ſchon ohne die runde
ſtachelichte Fruchtſchale des Igels. Habe ich dich beim Seeigel
gebeten, dir einen dicken Wurm zu denken, den einer zum
Klumpen in der Fauſt zerquetſcht hat, ſo zerre dir jetzt in der
Phantaſie einen Wurm in Zacken auseinander, bis er aus¬
ſchaut, als habe er fünf junge Würmer aus ſich erzeugt, die
aber unten noch mit ihm zuſammenhingen und einen regel¬
rechten Wurmſtern erzeugten. Das Bild iſt um ſo erlaubter,
als Naturforſcher erſten Ranges ſich zeitweilig der Idee hin¬
gegeben haben, es möchte der Seeſtern geſchichtlich gerade ſo
entſtanden ſein: durch Zuſammenwachſen von fünf Einzel¬
würmern; die Hypotheſe iſt allerdings heute wieder verlaſſen.

Ein ſolcher Seeſtern, in erwachſenem, geſchlechtsreifem Zu¬
ſtande, iſt nun ganz unzweideutig ein wohl entwickeltes, ſeeliſch
wie körperlich ſchlechterdings einheitliches „Individuum“. Seine
Jugendentwickelung vollzog ſich ähnlich wie beim Seeigel: auch
er hat ſchon einmal ſeiner eigenen Mutteramme bei lebendigem
Leibe den Magen fortſtibizt und den überflüſſigen Mutterleib
dann wie eine Nachtmütze ſich vom Kopfe geſtreift. Aber dann
iſt er „einheitlich“ geblieben in des Wortes ſtrikteſter Bedeu¬
tung und iſt, alles in allem gerechnet, einfach ein Individuum,
wie du ſelber eins biſt.

Obwohl ein ſolcher Seeſtern in der Form, wie man ihn
am Strande findet, ſtarr wie eine Apfelſinenſchale erſcheint,
darf man ſich doch nicht darüber täuſchen, daß er ſein ganz
wohl entwickeltes tieriſches Seelenleben zeigt. Ein komplizierter
Nervenapparat mit einem großen Nervenring, von dem Nerven¬
ſtränge ſtrahlig ausgehen, zeigt ihn als ſtraffe ſeeliſche Einheit.
Im Gegenſatz zu den meiſten anderen Stachelhäutern beſitzt er
ſogar deutlich erkennbare Augen in Geſtalt lichtbrechender roter
Punkte an den Spitzen der Arme. Weit entfernt, ein paſſiver

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[276/0292] Regungen ſo unerforſcht, daß man nicht zuviel Schlüſſe daran knüpfen ſollte. Jetzt ſieh dir aber folgenden Fall an. Der nächſte Verwandte des Seeigels iſt der Seeſtern. Auch ein Stachelhäuter, wenn ſchon ohne die runde ſtachelichte Fruchtſchale des Igels. Habe ich dich beim Seeigel gebeten, dir einen dicken Wurm zu denken, den einer zum Klumpen in der Fauſt zerquetſcht hat, ſo zerre dir jetzt in der Phantaſie einen Wurm in Zacken auseinander, bis er aus¬ ſchaut, als habe er fünf junge Würmer aus ſich erzeugt, die aber unten noch mit ihm zuſammenhingen und einen regel¬ rechten Wurmſtern erzeugten. Das Bild iſt um ſo erlaubter, als Naturforſcher erſten Ranges ſich zeitweilig der Idee hin¬ gegeben haben, es möchte der Seeſtern geſchichtlich gerade ſo entſtanden ſein: durch Zuſammenwachſen von fünf Einzel¬ würmern; die Hypotheſe iſt allerdings heute wieder verlaſſen. Ein ſolcher Seeſtern, in erwachſenem, geſchlechtsreifem Zu¬ ſtande, iſt nun ganz unzweideutig ein wohl entwickeltes, ſeeliſch wie körperlich ſchlechterdings einheitliches „Individuum“. Seine Jugendentwickelung vollzog ſich ähnlich wie beim Seeigel: auch er hat ſchon einmal ſeiner eigenen Mutteramme bei lebendigem Leibe den Magen fortſtibizt und den überflüſſigen Mutterleib dann wie eine Nachtmütze ſich vom Kopfe geſtreift. Aber dann iſt er „einheitlich“ geblieben in des Wortes ſtrikteſter Bedeu¬ tung und iſt, alles in allem gerechnet, einfach ein Individuum, wie du ſelber eins biſt. Obwohl ein ſolcher Seeſtern in der Form, wie man ihn am Strande findet, ſtarr wie eine Apfelſinenſchale erſcheint, darf man ſich doch nicht darüber täuſchen, daß er ſein ganz wohl entwickeltes tieriſches Seelenleben zeigt. Ein komplizierter Nervenapparat mit einem großen Nervenring, von dem Nerven¬ ſtränge ſtrahlig ausgehen, zeigt ihn als ſtraffe ſeeliſche Einheit. Im Gegenſatz zu den meiſten anderen Stachelhäutern beſitzt er ſogar deutlich erkennbare Augen in Geſtalt lichtbrechender roter Punkte an den Spitzen der Arme. Weit entfernt, ein paſſiver

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/292>, abgerufen am 28.11.2024.