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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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bösen Sinne, allerlei Eigengut, das offenbar im Akte der
Zeugung mit übertragen worden ist: dieser Akt bedeutet ja die
reale Ablösung eines Körperstückes, einer Samenzelle oder Ei¬
zelle, -- kein Wunder also. Es ist auch möglich, unter gesunden
Bedingungen sogar wahrscheinlich, daß diese Kinder abermals
Kinder hervorbringen, denen wieder ein Teil unseres Charakters
weitergegeben wird und so fort, -- es kann wenigstens hier
eine thatsächliche Kette in die Unendlichkeit gehen, die in diese
Unendlichkeit immerzu Bruchteile und Restteile des bestimmten
Menschen noch hinaustreibt und lebendig erhält. Aber, so wirft
der grübelnde Sinn ein, was ist das alles selbst im günstigsten
Falle für eine einseitige und mehr als halbe Sache. Heute
löst sich von mir eine Samenzelle, ein mikroskopisch winziges
Teilchen meines körperlichen Ich, von dessen Mitgift und Erb¬
schaft ich selber verzweifelt wenig weiß. Ich selber aber bleibe,
innerlich ganz unbekümmert um das Wachstum aus jener Zelle,
nach diesem Akt noch dreißig oder vierzig oder noch mehr Jahre
als festes Ich stehen, lebe weiter, entwickele, kläre, bereichere
mich, leiste der Welt und mir selber in diesen Jahren vielleicht
noch erst mein Bestes oder überhaupt erst etwas, was ernst zu
nehmen ist: und dieses ganze Ende "Ich" soll aus jeder Un¬
sterblichkeitsbahn heraus sein?

Nehmen wir gleich ein ganz scharfes Exempel: Goethe.
Also Goethe hat mit der Christiane Vulpius den bekannten
unglücklichen Sohn August erzeugt, dessen traurige Erdenbahn
der Vater selbst noch bis zur Neige erlebte. Von diesem Sohne
blieben über den Großvater hinaus die ebenfalls genügend be¬
kannten beiden steifen Onkel in Weimar, deren beste Lebensthat
ihr Testament war und die keine leiblichen Nachkommen mehr
hinterließen. Hier reißt die verfolgbare Goethesche Liebeslinie
überhaupt schon ab, -- eine sehr kurze "Unendlichkeit". Aber
das falle nebenbei, -- angenommen, sie ginge heute noch flott
weiter. Vergleiche! Halte dir daneben das Individuum Wolf¬
gang Goethe mit seiner Gigantenleistung in den Jahren noch

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böſen Sinne, allerlei Eigengut, das offenbar im Akte der
Zeugung mit übertragen worden iſt: dieſer Akt bedeutet ja die
reale Ablöſung eines Körperſtückes, einer Samenzelle oder Ei¬
zelle, — kein Wunder alſo. Es iſt auch möglich, unter geſunden
Bedingungen ſogar wahrſcheinlich, daß dieſe Kinder abermals
Kinder hervorbringen, denen wieder ein Teil unſeres Charakters
weitergegeben wird und ſo fort, — es kann wenigſtens hier
eine thatſächliche Kette in die Unendlichkeit gehen, die in dieſe
Unendlichkeit immerzu Bruchteile und Reſtteile des beſtimmten
Menſchen noch hinaustreibt und lebendig erhält. Aber, ſo wirft
der grübelnde Sinn ein, was iſt das alles ſelbſt im günſtigſten
Falle für eine einſeitige und mehr als halbe Sache. Heute
löſt ſich von mir eine Samenzelle, ein mikroſkopiſch winziges
Teilchen meines körperlichen Ich, von deſſen Mitgift und Erb¬
ſchaft ich ſelber verzweifelt wenig weiß. Ich ſelber aber bleibe,
innerlich ganz unbekümmert um das Wachstum aus jener Zelle,
nach dieſem Akt noch dreißig oder vierzig oder noch mehr Jahre
als feſtes Ich ſtehen, lebe weiter, entwickele, kläre, bereichere
mich, leiſte der Welt und mir ſelber in dieſen Jahren vielleicht
noch erſt mein Beſtes oder überhaupt erſt etwas, was ernſt zu
nehmen iſt: und dieſes ganze Ende „Ich“ ſoll aus jeder Un¬
ſterblichkeitsbahn heraus ſein?

Nehmen wir gleich ein ganz ſcharfes Exempel: Goethe.
Alſo Goethe hat mit der Chriſtiane Vulpius den bekannten
unglücklichen Sohn Auguſt erzeugt, deſſen traurige Erdenbahn
der Vater ſelbſt noch bis zur Neige erlebte. Von dieſem Sohne
blieben über den Großvater hinaus die ebenfalls genügend be¬
kannten beiden ſteifen Onkel in Weimar, deren beſte Lebensthat
ihr Teſtament war und die keine leiblichen Nachkommen mehr
hinterließen. Hier reißt die verfolgbare Goetheſche Liebeslinie
überhaupt ſchon ab, — eine ſehr kurze „Unendlichkeit“. Aber
das falle nebenbei, — angenommen, ſie ginge heute noch flott
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gang Goethe mit ſeiner Gigantenleiſtung in den Jahren noch

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[227/0243] böſen Sinne, allerlei Eigengut, das offenbar im Akte der Zeugung mit übertragen worden iſt: dieſer Akt bedeutet ja die reale Ablöſung eines Körperſtückes, einer Samenzelle oder Ei¬ zelle, — kein Wunder alſo. Es iſt auch möglich, unter geſunden Bedingungen ſogar wahrſcheinlich, daß dieſe Kinder abermals Kinder hervorbringen, denen wieder ein Teil unſeres Charakters weitergegeben wird und ſo fort, — es kann wenigſtens hier eine thatſächliche Kette in die Unendlichkeit gehen, die in dieſe Unendlichkeit immerzu Bruchteile und Reſtteile des beſtimmten Menſchen noch hinaustreibt und lebendig erhält. Aber, ſo wirft der grübelnde Sinn ein, was iſt das alles ſelbſt im günſtigſten Falle für eine einſeitige und mehr als halbe Sache. Heute löſt ſich von mir eine Samenzelle, ein mikroſkopiſch winziges Teilchen meines körperlichen Ich, von deſſen Mitgift und Erb¬ ſchaft ich ſelber verzweifelt wenig weiß. Ich ſelber aber bleibe, innerlich ganz unbekümmert um das Wachstum aus jener Zelle, nach dieſem Akt noch dreißig oder vierzig oder noch mehr Jahre als feſtes Ich ſtehen, lebe weiter, entwickele, kläre, bereichere mich, leiſte der Welt und mir ſelber in dieſen Jahren vielleicht noch erſt mein Beſtes oder überhaupt erſt etwas, was ernſt zu nehmen iſt: und dieſes ganze Ende „Ich“ ſoll aus jeder Un¬ ſterblichkeitsbahn heraus ſein? Nehmen wir gleich ein ganz ſcharfes Exempel: Goethe. Alſo Goethe hat mit der Chriſtiane Vulpius den bekannten unglücklichen Sohn Auguſt erzeugt, deſſen traurige Erdenbahn der Vater ſelbſt noch bis zur Neige erlebte. Von dieſem Sohne blieben über den Großvater hinaus die ebenfalls genügend be¬ kannten beiden ſteifen Onkel in Weimar, deren beſte Lebensthat ihr Teſtament war und die keine leiblichen Nachkommen mehr hinterließen. Hier reißt die verfolgbare Goetheſche Liebeslinie überhaupt ſchon ab, — eine ſehr kurze „Unendlichkeit“. Aber das falle nebenbei, — angenommen, ſie ginge heute noch flott weiter. Vergleiche! Halte dir daneben das Individuum Wolf¬ gang Goethe mit ſeiner Gigantenleiſtung in den Jahren noch — 227 — 15*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/243>, abgerufen am 19.05.2024.