nachdenken und lernen. Ich weiß aber nicht, wie viele in der Welt sind, die überhaupt je davon auch nur den nackten Namen gehört haben. Du kennst es sicher nicht, und wenn ich dir einen schlechten Witz anthäte und dir weis machte, ich erzählte dir jetzt etwas vom Mars, so würdest du es für eine höchst lustige Satire halten, eine Münchhausiade, erfunden, um menschliche Gesellschaftsverhältnisse lächerlich zu machen, aber doch erfunden auch recht mit dem Stempel des Unmöglichen an der Stirn.
Dein vierter Satz lautete, daß ganze Menschenindividuen als solche nicht noch einmal wieder miteinander zusammen¬ wachsen könnten, wie Einzelzellen zu Menschenkörpern ursprüng¬ lich verwachsen sind. Keinerlei sozialer Verband, auch die Liebe nicht, weiß so etwas zu ermöglichen. Die siamesischen Zwillinge sind eine Mißgeburt, keine höhere Entwickelung. Gerade auf der Unabhängigkeit und körperlichen Selbständigkeit der mensch¬ lichen Einzelindividuen steht das Ideal des Sozialen im Menschentum, -- und so weiter. Dich gelüstet nach einem soziologischen Exkurs, und ich schüttle dir vorher schon die Hand, daß du recht hast. Darum bleibt dir aber doch für die Ecke des großen Tierzwingers, an der wir gerade stehen, fol¬ gender Fall unentrinnbar wahr und fordert dein ganzes Nach¬ denken, indem er seiner zunächst zu spotten scheint.
Hier schwimmt eine Qualle oder Meduse -- ein einzelnes Individuum. Es ist ein einheitliches Einzelgeschöpf, im Prinzip genau wie du. Es besteht aus einem Klumpen von Zellen genau wie du. Diese Zellen haben sich zu festestem Verbande vereint, genau wie deine -- so daß als Resultat ein neues, höheres, aber thatsächlich wieder ganz sicher in sich geschlossenes Individuum herausgekommen ist, genau wie du eines bist. Unter den Zellen ist Arbeitsteilung eingetreten, genau wie bei deinen in deinem Leibe. Sie bilden Organe -- nicht so viele wie die Zellen in deinem Leibe, aber doch einige sehr bemerk¬ bare, zum Beispiel den Magen, die Schwimmblase, einen ge¬ wissen einfachen Nervenapparat, und vor allem gewisse Gruppen,
nachdenken und lernen. Ich weiß aber nicht, wie viele in der Welt ſind, die überhaupt je davon auch nur den nackten Namen gehört haben. Du kennſt es ſicher nicht, und wenn ich dir einen ſchlechten Witz anthäte und dir weis machte, ich erzählte dir jetzt etwas vom Mars, ſo würdeſt du es für eine höchſt luſtige Satire halten, eine Münchhauſiade, erfunden, um menſchliche Geſellſchaftsverhältniſſe lächerlich zu machen, aber doch erfunden auch recht mit dem Stempel des Unmöglichen an der Stirn.
Dein vierter Satz lautete, daß ganze Menſchenindividuen als ſolche nicht noch einmal wieder miteinander zuſammen¬ wachſen könnten, wie Einzelzellen zu Menſchenkörpern urſprüng¬ lich verwachſen ſind. Keinerlei ſozialer Verband, auch die Liebe nicht, weiß ſo etwas zu ermöglichen. Die ſiameſiſchen Zwillinge ſind eine Mißgeburt, keine höhere Entwickelung. Gerade auf der Unabhängigkeit und körperlichen Selbſtändigkeit der menſch¬ lichen Einzelindividuen ſteht das Ideal des Sozialen im Menſchentum, — und ſo weiter. Dich gelüſtet nach einem ſoziologiſchen Exkurs, und ich ſchüttle dir vorher ſchon die Hand, daß du recht haſt. Darum bleibt dir aber doch für die Ecke des großen Tierzwingers, an der wir gerade ſtehen, fol¬ gender Fall unentrinnbar wahr und fordert dein ganzes Nach¬ denken, indem er ſeiner zunächſt zu ſpotten ſcheint.
Hier ſchwimmt eine Qualle oder Meduſe — ein einzelnes Individuum. Es iſt ein einheitliches Einzelgeſchöpf, im Prinzip genau wie du. Es beſteht aus einem Klumpen von Zellen genau wie du. Dieſe Zellen haben ſich zu feſteſtem Verbande vereint, genau wie deine — ſo daß als Reſultat ein neues, höheres, aber thatſächlich wieder ganz ſicher in ſich geſchloſſenes Individuum herausgekommen iſt, genau wie du eines biſt. Unter den Zellen iſt Arbeitsteilung eingetreten, genau wie bei deinen in deinem Leibe. Sie bilden Organe — nicht ſo viele wie die Zellen in deinem Leibe, aber doch einige ſehr bemerk¬ bare, zum Beiſpiel den Magen, die Schwimmblaſe, einen ge¬ wiſſen einfachen Nervenapparat, und vor allem gewiſſe Gruppen,
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nachdenken und lernen. Ich weiß aber nicht, wie viele in der
Welt ſind, die überhaupt je davon auch nur den nackten Namen
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einen ſchlechten Witz anthäte und dir weis machte, ich erzählte dir
jetzt etwas vom Mars, ſo würdeſt du es für eine höchſt luſtige
Satire halten, eine Münchhauſiade, erfunden, um menſchliche
Geſellſchaftsverhältniſſe lächerlich zu machen, aber doch erfunden
auch recht mit dem Stempel des Unmöglichen an der Stirn.
Dein vierter Satz lautete, daß ganze Menſchenindividuen
als ſolche nicht noch einmal wieder miteinander zuſammen¬
wachſen könnten, wie Einzelzellen zu Menſchenkörpern urſprüng¬
lich verwachſen ſind. Keinerlei ſozialer Verband, auch die Liebe
nicht, weiß ſo etwas zu ermöglichen. Die ſiameſiſchen Zwillinge
ſind eine Mißgeburt, keine höhere Entwickelung. Gerade auf
der Unabhängigkeit und körperlichen Selbſtändigkeit der menſch¬
lichen Einzelindividuen ſteht das Ideal des Sozialen im
Menſchentum, — und ſo weiter. Dich gelüſtet nach einem
ſoziologiſchen Exkurs, und ich ſchüttle dir vorher ſchon die
Hand, daß du recht haſt. Darum bleibt dir aber doch für die
Ecke des großen Tierzwingers, an der wir gerade ſtehen, fol¬
gender Fall unentrinnbar wahr und fordert dein ganzes Nach¬
denken, indem er ſeiner zunächſt zu ſpotten ſcheint.
Hier ſchwimmt eine Qualle oder Meduſe — ein einzelnes
Individuum. Es iſt ein einheitliches Einzelgeſchöpf, im Prinzip
genau wie du. Es beſteht aus einem Klumpen von Zellen
genau wie du. Dieſe Zellen haben ſich zu feſteſtem Verbande
vereint, genau wie deine — ſo daß als Reſultat ein neues,
höheres, aber thatſächlich wieder ganz ſicher in ſich geſchloſſenes
Individuum herausgekommen iſt, genau wie du eines biſt.
Unter den Zellen iſt Arbeitsteilung eingetreten, genau wie bei
deinen in deinem Leibe. Sie bilden Organe — nicht ſo viele
wie die Zellen in deinem Leibe, aber doch einige ſehr bemerk¬
bare, zum Beiſpiel den Magen, die Schwimmblaſe, einen ge¬
wiſſen einfachen Nervenapparat, und vor allem gewiſſe Gruppen,
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/234>, abgerufen am 24.11.2024.
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