seine Existenz auf Erden umschließt die des Volvox als frühe Entwickelungsstufe einfach in sich.
Nun aber: er bleibt beim Volvox nicht stehen. Der Menschenembryo im Mutterleibe muß noch mehr umschließen, noch mehr abmachen nach dem biogenetischen Grundgesetz als den Volvox, weil ja seine geschichtliche Entwickelung einst weit über den Volvox hinaus gestiegen ist zu einer ungeheuren Ahnenkette vom Volvox aufwärts bis zu dir.
Da siehst du, wie der Embryo aus einem einfachen Zell¬ klumpen zu einem Gebilde aus zwei Zellschichten wächst, gerade so wie die Gasträa zwei Zellschichten -- Haut und Darm -- bekam. Die zwei Zellschichten werden zu vieren wie beim Wurm, und aus den Zellschichten bauen sich Organe auf, denen des Wurmes verwandt. Die erste Anlage eines Rückenmarks, einer schlichtesten, noch schädellosen Wirbelsäule macht sich merk¬ bar, wie beim niedrigen, noch schädellosen Amphioxusfisch. Dann bildet der Schädel sich, aber erst wie beim kiefernlosen Neunauge. Die beiden Gliedmaßenpaare erscheinen als flossen¬ artige Knospen, am Halse liegen Kiemenspalten: es ist, als sollte ein Fisch werden. Aber schon lenkt die rapid schnelle auto¬ matische Entwickelung zu Formen über, die an Lurch und Reptil, an Schnabeltier und Beuteltier in diesem und jenem erinnern. Und jetzt endlich ein Äffchen, -- ein Mensch. So bist du geworden. So deine Liebste. So wird jedes deiner Kinder. Jeder Mensch. Der König und der Bettler. Spinoza und Hieronymus Jobs. Der Heilige und der Schächer .....
Du wirst noch einmal, was du warst. Deine Ahnen waren das alles. Indem du "wirst", das heißt: dich als Individuum vom Riesenbaum der Menschheit trennst, saust deine eigene Entwickelung noch einmal im Sturm die ganze Linie ab, vom Bazillus bis zum Menschen hin. Freilich: die Sache geht in vielem überrapid, geht so schnell, daß ganze Linien nur noch wie halb im Nebel, nur schattenhaft noch auf¬ tauchen. Der Weg ist zu riesig, zu viel Zeit ginge selbst in
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ſeine Exiſtenz auf Erden umſchließt die des Volvox als frühe Entwickelungsſtufe einfach in ſich.
Nun aber: er bleibt beim Volvox nicht ſtehen. Der Menſchenembryo im Mutterleibe muß noch mehr umſchließen, noch mehr abmachen nach dem biogenetiſchen Grundgeſetz als den Volvox, weil ja ſeine geſchichtliche Entwickelung einſt weit über den Volvox hinaus geſtiegen iſt zu einer ungeheuren Ahnenkette vom Volvox aufwärts bis zu dir.
Da ſiehſt du, wie der Embryo aus einem einfachen Zell¬ klumpen zu einem Gebilde aus zwei Zellſchichten wächſt, gerade ſo wie die Gaſträa zwei Zellſchichten — Haut und Darm — bekam. Die zwei Zellſchichten werden zu vieren wie beim Wurm, und aus den Zellſchichten bauen ſich Organe auf, denen des Wurmes verwandt. Die erſte Anlage eines Rückenmarks, einer ſchlichteſten, noch ſchädelloſen Wirbelſäule macht ſich merk¬ bar, wie beim niedrigen, noch ſchädelloſen Amphioxusfiſch. Dann bildet der Schädel ſich, aber erſt wie beim kiefernloſen Neunauge. Die beiden Gliedmaßenpaare erſcheinen als floſſen¬ artige Knoſpen, am Halſe liegen Kiemenſpalten: es iſt, als ſollte ein Fiſch werden. Aber ſchon lenkt die rapid ſchnelle auto¬ matiſche Entwickelung zu Formen über, die an Lurch und Reptil, an Schnabeltier und Beuteltier in dieſem und jenem erinnern. Und jetzt endlich ein Äffchen, — ein Menſch. So biſt du geworden. So deine Liebſte. So wird jedes deiner Kinder. Jeder Menſch. Der König und der Bettler. Spinoza und Hieronymus Jobs. Der Heilige und der Schächer .....
Du wirſt noch einmal, was du warſt. Deine Ahnen waren das alles. Indem du „wirſt“, das heißt: dich als Individuum vom Rieſenbaum der Menſchheit trennſt, ſauſt deine eigene Entwickelung noch einmal im Sturm die ganze Linie ab, vom Bazillus bis zum Menſchen hin. Freilich: die Sache geht in vielem überrapid, geht ſo ſchnell, daß ganze Linien nur noch wie halb im Nebel, nur ſchattenhaft noch auf¬ tauchen. Der Weg iſt zu rieſig, zu viel Zeit ginge ſelbſt in
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Entwickelungsſtufe einfach in ſich.
Nun aber: er bleibt beim Volvox nicht ſtehen. Der
Menſchenembryo im Mutterleibe muß noch mehr umſchließen,
noch mehr abmachen nach dem biogenetiſchen Grundgeſetz als
den Volvox, weil ja ſeine geſchichtliche Entwickelung einſt weit
über den Volvox hinaus geſtiegen iſt zu einer ungeheuren
Ahnenkette vom Volvox aufwärts bis zu dir.
Da ſiehſt du, wie der Embryo aus einem einfachen Zell¬
klumpen zu einem Gebilde aus zwei Zellſchichten wächſt, gerade
ſo wie die Gaſträa zwei Zellſchichten — Haut und Darm —
bekam. Die zwei Zellſchichten werden zu vieren wie beim
Wurm, und aus den Zellſchichten bauen ſich Organe auf, denen
des Wurmes verwandt. Die erſte Anlage eines Rückenmarks,
einer ſchlichteſten, noch ſchädelloſen Wirbelſäule macht ſich merk¬
bar, wie beim niedrigen, noch ſchädelloſen Amphioxusfiſch.
Dann bildet der Schädel ſich, aber erſt wie beim kiefernloſen
Neunauge. Die beiden Gliedmaßenpaare erſcheinen als floſſen¬
artige Knoſpen, am Halſe liegen Kiemenſpalten: es iſt, als ſollte
ein Fiſch werden. Aber ſchon lenkt die rapid ſchnelle auto¬
matiſche Entwickelung zu Formen über, die an Lurch und
Reptil, an Schnabeltier und Beuteltier in dieſem und jenem
erinnern. Und jetzt endlich ein Äffchen, — ein Menſch. So
biſt du geworden. So deine Liebſte. So wird jedes deiner
Kinder. Jeder Menſch. Der König und der Bettler. Spinoza
und Hieronymus Jobs. Der Heilige und der Schächer .....
Du wirſt noch einmal, was du warſt. Deine Ahnen
waren das alles. Indem du „wirſt“, das heißt: dich als
Individuum vom Rieſenbaum der Menſchheit trennſt, ſauſt
deine eigene Entwickelung noch einmal im Sturm die ganze
Linie ab, vom Bazillus bis zum Menſchen hin. Freilich: die
Sache geht in vielem überrapid, geht ſo ſchnell, daß ganze
Linien nur noch wie halb im Nebel, nur ſchattenhaft noch auf¬
tauchen. Der Weg iſt zu rieſig, zu viel Zeit ginge ſelbſt in
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/211>, abgerufen am 16.02.2025.
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