Hat es einen Magen und Darm wie wir? Bewahre. Es frißt im buchstäblichen Sinne mit dem ganzen Leibe und scheidet ebenso das Unbrauchbare mit dem ganzen Leibe aus. Fütterst du eine Amöbe mit einem Körnchen Nährstoff, der farbhaltig ist, so siehst du, wie beliebig an jeder Stelle dieses Körnchen in den weichen Zellenleib eintreten kann, wie es in der ganzen Zellmasse gleichartig gelöst und verarbeitet wird und wie an jeder beliebigen Stelle ein unbrauchbares Rest¬ exkrement davon auch wieder von der Zelle ausgestoßen werden kann. Genau so geht's mit dem Luftfressen, dem Atmen, so geht's mit der Empfindung, die durchweg über den ganzen kleinen Körper gleichmäßig verteilt scheint, -- und du hast ja gesehen: bei der Ganzteilung und Ganzverschmelzung gilt ja auch von der Liebe, daß diese Amöbchen im nacktesten Wort¬ sinn mit dem "ganzen Leibe lieben".
Nicht so aber eines jener Infusorien. Einzellig ist's noch immer, genau wie die Amöbe. Aber sieh' ihm zu, wie es frißt und verdaut. Da gewahrst du auf den ersten Blick eine regelrechte, unveränderliche Mundöffnung, durch die feste wie flüssige Nahrung eintritt. Dieser "Zellenmund" führt meist in einen kurzen Kanal, einen Schlund, in dessen Wand oft Stäb¬ chen wie bei einer Fischreuse sitzen, die wohl in etwa bereits die Rolle von Zähnen spielen. Manchmal hat der Mund auch schon Lippen, ja einen langen Rüssel zum Saugen. Auch eine entgegengesetzte Öffnung, ein "Zellaster", ist vielfach bemerkbar. Bloß der Magen selbst fehlt noch. Zwischen Schlund und After liegt die Nahrung direkt in der offenen Zellmasse. Aber schon siehst du, wie sie dort kunstgerecht bewegt, wie sie wenigstens wie in einem Magen behandelt wird, und un¬ willkürlich schaut man sich um, ob nicht bei einem besonders hoch gekommenen Infusorium zwischen Schlund und After eine feste Röhre oder Blase doch schon wirklich entstanden sei: die erste Grundanlage eines Magens oder Darms. Wäre das aber erreicht: warum nicht weitere Sonderung des Leibes in
Hat es einen Magen und Darm wie wir? Bewahre. Es frißt im buchſtäblichen Sinne mit dem ganzen Leibe und ſcheidet ebenſo das Unbrauchbare mit dem ganzen Leibe aus. Fütterſt du eine Amöbe mit einem Körnchen Nährſtoff, der farbhaltig iſt, ſo ſiehſt du, wie beliebig an jeder Stelle dieſes Körnchen in den weichen Zellenleib eintreten kann, wie es in der ganzen Zellmaſſe gleichartig gelöſt und verarbeitet wird und wie an jeder beliebigen Stelle ein unbrauchbares Reſt¬ exkrement davon auch wieder von der Zelle ausgeſtoßen werden kann. Genau ſo geht's mit dem Luftfreſſen, dem Atmen, ſo geht's mit der Empfindung, die durchweg über den ganzen kleinen Körper gleichmäßig verteilt ſcheint, — und du haſt ja geſehen: bei der Ganzteilung und Ganzverſchmelzung gilt ja auch von der Liebe, daß dieſe Amöbchen im nackteſten Wort¬ ſinn mit dem „ganzen Leibe lieben“.
Nicht ſo aber eines jener Infuſorien. Einzellig iſt's noch immer, genau wie die Amöbe. Aber ſieh' ihm zu, wie es frißt und verdaut. Da gewahrſt du auf den erſten Blick eine regelrechte, unveränderliche Mundöffnung, durch die feſte wie flüſſige Nahrung eintritt. Dieſer „Zellenmund“ führt meiſt in einen kurzen Kanal, einen Schlund, in deſſen Wand oft Stäb¬ chen wie bei einer Fiſchreuſe ſitzen, die wohl in etwa bereits die Rolle von Zähnen ſpielen. Manchmal hat der Mund auch ſchon Lippen, ja einen langen Rüſſel zum Saugen. Auch eine entgegengeſetzte Öffnung, ein „Zellaſter“, iſt vielfach bemerkbar. Bloß der Magen ſelbſt fehlt noch. Zwiſchen Schlund und After liegt die Nahrung direkt in der offenen Zellmaſſe. Aber ſchon ſiehſt du, wie ſie dort kunſtgerecht bewegt, wie ſie wenigſtens wie in einem Magen behandelt wird, und un¬ willkürlich ſchaut man ſich um, ob nicht bei einem beſonders hoch gekommenen Infuſorium zwiſchen Schlund und After eine feſte Röhre oder Blaſe doch ſchon wirklich entſtanden ſei: die erſte Grundanlage eines Magens oder Darms. Wäre das aber erreicht: warum nicht weitere Sonderung des Leibes in
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Hat es einen Magen und Darm wie wir? Bewahre. Es
frißt im buchſtäblichen Sinne mit dem ganzen Leibe und
ſcheidet ebenſo das Unbrauchbare mit dem ganzen Leibe aus.
Fütterſt du eine Amöbe mit einem Körnchen Nährſtoff, der
farbhaltig iſt, ſo ſiehſt du, wie beliebig an jeder Stelle dieſes
Körnchen in den weichen Zellenleib eintreten kann, wie es in
der ganzen Zellmaſſe gleichartig gelöſt und verarbeitet wird
und wie an jeder beliebigen Stelle ein unbrauchbares Reſt¬
exkrement davon auch wieder von der Zelle ausgeſtoßen werden
kann. Genau ſo geht's mit dem Luftfreſſen, dem Atmen, ſo
geht's mit der Empfindung, die durchweg über den ganzen
kleinen Körper gleichmäßig verteilt ſcheint, — und du haſt ja
geſehen: bei der Ganzteilung und Ganzverſchmelzung gilt ja
auch von der Liebe, daß dieſe Amöbchen im nackteſten Wort¬
ſinn mit dem „ganzen Leibe lieben“.
Nicht ſo aber eines jener Infuſorien. Einzellig iſt's noch
immer, genau wie die Amöbe. Aber ſieh' ihm zu, wie es
frißt und verdaut. Da gewahrſt du auf den erſten Blick eine
regelrechte, unveränderliche Mundöffnung, durch die feſte wie
flüſſige Nahrung eintritt. Dieſer „Zellenmund“ führt meiſt in
einen kurzen Kanal, einen Schlund, in deſſen Wand oft Stäb¬
chen wie bei einer Fiſchreuſe ſitzen, die wohl in etwa bereits
die Rolle von Zähnen ſpielen. Manchmal hat der Mund auch
ſchon Lippen, ja einen langen Rüſſel zum Saugen. Auch eine
entgegengeſetzte Öffnung, ein „Zellaſter“, iſt vielfach bemerkbar.
Bloß der Magen ſelbſt fehlt noch. Zwiſchen Schlund und
After liegt die Nahrung direkt in der offenen Zellmaſſe. Aber
ſchon ſiehſt du, wie ſie dort kunſtgerecht bewegt, wie ſie
wenigſtens wie in einem Magen behandelt wird, und un¬
willkürlich ſchaut man ſich um, ob nicht bei einem beſonders
hoch gekommenen Infuſorium zwiſchen Schlund und After eine
feſte Röhre oder Blaſe doch ſchon wirklich entſtanden ſei: die
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aber erreicht: warum nicht weitere Sonderung des Leibes in
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/184>, abgerufen am 25.11.2024.
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