machen: damit aus Eins Zwei werden können, muß zunächst Eins als solches vorhanden sein. Auf der Existenz getrennter Individuen stand schon die Fortpflanzung der Bazillen. Bei dir, beim Menschen, sind sogar direkt zwei Individuen als Voraussetzung des Zeugungsaktes unentbehrlich. Aber selbst angenommen, es sei nur die Mutter allein nötig, um das Kind zu erzeugen: so ist doch die Existenz des einen Individuums, der Mutter, eine schlechterdings bindende Voraussetzung.
Interessant nun: zum Prozeß der Individualitätenbildung ist offenbar schon die einfache, "anorganische" Natur jenseits des Bazillus übergegangen. Ein sehr sinnfälliges Beispiel bietet der Kristall. Betrachte dir eine schöne Stufe Berg¬ kristall. Oder bewundere die auf deinen schwarzen Mantel fallenden reizenden Schneekristalle eines Wintertages. Aber es giebt noch andere Anläufe verwandter Art. Mit dem Fern¬ rohr siehst du im Weltraum die ganze Kette fortgesetzter Phasen der Individualisierung beim Sternenreich. Der formlose Nebel¬ fleck zerfällt zum Sternhaufen, wo Sonne neben Sonne steht. Jede Sonne scheint im engeren wieder zu Planeten, jeder große Planet zu Monden zu zerfallen. Als Abschluß erscheint eine unendliche Reihe äußerst scharf gesonderter Individuen, die zwar zu Systemen im großen zusammenhalten, aber im engeren jedes starr für sich stehen und sich allein weiter entwickeln. Was ist die Erde im ganzen für ein scharf geprägtes Individuum! Weiter. Im Gebiet der Chemie, die am eindringlichsten sich in die Betrachtung des kleinen, innerlichen Wesens der anorga¬ nischen Stoffe vertieft, siehst du dich mit ebenso großem Nach¬ druck allenthalben auf die Existenz gewisser kleiner und kleinster Individualitäten innerhalb der Verbindungen und Grundstoffe gestoßen. Auf ihrem Wechselspiel und individuellen Wirken baut sich im Herzen die ganze Chemie auf und der Chemiker erschließt sie aus seinen Rechnungen als eine Art logischer Notwendigkeit auch da, wo jede Möglichkeit des Sehens auf¬ hört. Schon die einzelnen reinen Mineralstoffe, vor allem die
machen: damit aus Eins Zwei werden können, muß zunächſt Eins als ſolches vorhanden ſein. Auf der Exiſtenz getrennter Individuen ſtand ſchon die Fortpflanzung der Bazillen. Bei dir, beim Menſchen, ſind ſogar direkt zwei Individuen als Vorausſetzung des Zeugungsaktes unentbehrlich. Aber ſelbſt angenommen, es ſei nur die Mutter allein nötig, um das Kind zu erzeugen: ſo iſt doch die Exiſtenz des einen Individuums, der Mutter, eine ſchlechterdings bindende Vorausſetzung.
Intereſſant nun: zum Prozeß der Individualitätenbildung iſt offenbar ſchon die einfache, „anorganiſche“ Natur jenſeits des Bazillus übergegangen. Ein ſehr ſinnfälliges Beiſpiel bietet der Kriſtall. Betrachte dir eine ſchöne Stufe Berg¬ kriſtall. Oder bewundere die auf deinen ſchwarzen Mantel fallenden reizenden Schneekriſtalle eines Wintertages. Aber es giebt noch andere Anläufe verwandter Art. Mit dem Fern¬ rohr ſiehſt du im Weltraum die ganze Kette fortgeſetzter Phaſen der Individualiſierung beim Sternenreich. Der formloſe Nebel¬ fleck zerfällt zum Sternhaufen, wo Sonne neben Sonne ſteht. Jede Sonne ſcheint im engeren wieder zu Planeten, jeder große Planet zu Monden zu zerfallen. Als Abſchluß erſcheint eine unendliche Reihe äußerſt ſcharf geſonderter Individuen, die zwar zu Syſtemen im großen zuſammenhalten, aber im engeren jedes ſtarr für ſich ſtehen und ſich allein weiter entwickeln. Was iſt die Erde im ganzen für ein ſcharf geprägtes Individuum! Weiter. Im Gebiet der Chemie, die am eindringlichſten ſich in die Betrachtung des kleinen, innerlichen Weſens der anorga¬ niſchen Stoffe vertieft, ſiehſt du dich mit ebenſo großem Nach¬ druck allenthalben auf die Exiſtenz gewiſſer kleiner und kleinſter Individualitäten innerhalb der Verbindungen und Grundſtoffe geſtoßen. Auf ihrem Wechſelſpiel und individuellen Wirken baut ſich im Herzen die ganze Chemie auf und der Chemiker erſchließt ſie aus ſeinen Rechnungen als eine Art logiſcher Notwendigkeit auch da, wo jede Möglichkeit des Sehens auf¬ hört. Schon die einzelnen reinen Mineralſtoffe, vor allem die
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machen: damit aus Eins Zwei werden können, muß zunächſt
Eins als ſolches vorhanden ſein. Auf der Exiſtenz getrennter
Individuen ſtand ſchon die Fortpflanzung der Bazillen. Bei
dir, beim Menſchen, ſind ſogar direkt zwei Individuen als
Vorausſetzung des Zeugungsaktes unentbehrlich. Aber ſelbſt
angenommen, es ſei nur die Mutter allein nötig, um das Kind
zu erzeugen: ſo iſt doch die Exiſtenz des einen Individuums,
der Mutter, eine ſchlechterdings bindende Vorausſetzung.
Intereſſant nun: zum Prozeß der Individualitätenbildung
iſt offenbar ſchon die einfache, „anorganiſche“ Natur jenſeits
des Bazillus übergegangen. Ein ſehr ſinnfälliges Beiſpiel
bietet der Kriſtall. Betrachte dir eine ſchöne Stufe Berg¬
kriſtall. Oder bewundere die auf deinen ſchwarzen Mantel
fallenden reizenden Schneekriſtalle eines Wintertages. Aber es
giebt noch andere Anläufe verwandter Art. Mit dem Fern¬
rohr ſiehſt du im Weltraum die ganze Kette fortgeſetzter Phaſen
der Individualiſierung beim Sternenreich. Der formloſe Nebel¬
fleck zerfällt zum Sternhaufen, wo Sonne neben Sonne ſteht.
Jede Sonne ſcheint im engeren wieder zu Planeten, jeder große
Planet zu Monden zu zerfallen. Als Abſchluß erſcheint eine
unendliche Reihe äußerſt ſcharf geſonderter Individuen, die zwar
zu Syſtemen im großen zuſammenhalten, aber im engeren jedes
ſtarr für ſich ſtehen und ſich allein weiter entwickeln. Was
iſt die Erde im ganzen für ein ſcharf geprägtes Individuum!
Weiter. Im Gebiet der Chemie, die am eindringlichſten ſich
in die Betrachtung des kleinen, innerlichen Weſens der anorga¬
niſchen Stoffe vertieft, ſiehſt du dich mit ebenſo großem Nach¬
druck allenthalben auf die Exiſtenz gewiſſer kleiner und kleinſter
Individualitäten innerhalb der Verbindungen und Grundſtoffe
geſtoßen. Auf ihrem Wechſelſpiel und individuellen Wirken
baut ſich im Herzen die ganze Chemie auf und der Chemiker
erſchließt ſie aus ſeinen Rechnungen als eine Art logiſcher
Notwendigkeit auch da, wo jede Möglichkeit des Sehens auf¬
hört. Schon die einzelnen reinen Mineralſtoffe, vor allem die
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/133>, abgerufen am 24.11.2024.
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