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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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die Krone unter allen Geschöpfen zuzuerteilen hinsichtlich der
Empfindungen, die er beim Geschlechtsakt verspürt haben muß.
Dieser Atlasdrache, der, wenn nicht die Erde, so doch ein
kleines Haus ganz gut hätte auf dem Rücken herumschleppen
können, besaß einen geradezu winzigen Schädelraum für das
Gehirn, so klein, daß er nicht im entferntesten Verhältnis zu
den Proportionen des Gesamtkörpers auch nur nach sonstigem
Reptilienmaß stand. Dafür aber erweiterte sich der Hohlraum
der Rückenwirbel gerade in der Gegend, die über den Ge¬
schlechtsteilen lag, so bedeutend, daß das Rückenmark hier etwa
dreimal so dick gewesen sein muß als das eigentliche Gehirn.
Man hat geradezu von einem "Schwanzgehirn" dieser Tiere
gesprochen, einem besonderem Gehirn über dem Becken, das
den hinteren Körperteil, vor allem den enorm schweren Schwanz,
regieren half. Unwillkürlich bringt man dieses Schwanzgehirn
aber auch mit dem Geschlechtsakt in Verbindung: man ahnt
ungeheuerliche Nervenerregungen, die eine solche Anhäufung
von Rückenmarksubstanz gerade in der kritischen Gegend sehr
wohl bedingen konnte.

Hoch durch das Blau über diesen schwerfälligen Scheu¬
salen schwang sich das kunstvollste, rätselhafteste aller Urwelt¬
geschöpfe dahin: die zierlich kleine Archäopteryx, halb Vogel
mit Schwingen und Federkleid, halb Eidechse mit langem
Schwanz und einem Maul voll spitzer Zähne. Nichts verrät,
wie ihre Liebe sich vollzog. Wie die vielleicht märchenhaft
bunten Federfarben verblaßt sind zu dem einförmigen Braun
des Solnhofener Schiefers, aus dem die beiden einzigen be¬
kannten Exemplare stammen, so ist alles Erotische an ihm ver¬
schollen. Aber die Phantasie sieht auch ihn nach Vogelart sein
Nest bauen und Eier legen, sieht die Geschlechter sich jagen in
den Lüften, sieht das Männchen mit dem gewaltigen, doppel¬
reihig befiederten Schweif gaukeln und die Kraft seiner Liebe
prahlerisch ankündigen .... ein verschollenes Märchen, über
verschollenem Wald am Gestade eines verschollenen Ozeans.

die Krone unter allen Geſchöpfen zuzuerteilen hinſichtlich der
Empfindungen, die er beim Geſchlechtsakt verſpürt haben muß.
Dieſer Atlasdrache, der, wenn nicht die Erde, ſo doch ein
kleines Haus ganz gut hätte auf dem Rücken herumſchleppen
können, beſaß einen geradezu winzigen Schädelraum für das
Gehirn, ſo klein, daß er nicht im entfernteſten Verhältnis zu
den Proportionen des Geſamtkörpers auch nur nach ſonſtigem
Reptilienmaß ſtand. Dafür aber erweiterte ſich der Hohlraum
der Rückenwirbel gerade in der Gegend, die über den Ge¬
ſchlechtsteilen lag, ſo bedeutend, daß das Rückenmark hier etwa
dreimal ſo dick geweſen ſein muß als das eigentliche Gehirn.
Man hat geradezu von einem „Schwanzgehirn“ dieſer Tiere
geſprochen, einem beſonderem Gehirn über dem Becken, das
den hinteren Körperteil, vor allem den enorm ſchweren Schwanz,
regieren half. Unwillkürlich bringt man dieſes Schwanzgehirn
aber auch mit dem Geſchlechtsakt in Verbindung: man ahnt
ungeheuerliche Nervenerregungen, die eine ſolche Anhäufung
von Rückenmarkſubſtanz gerade in der kritiſchen Gegend ſehr
wohl bedingen konnte.

Hoch durch das Blau über dieſen ſchwerfälligen Scheu¬
ſalen ſchwang ſich das kunſtvollſte, rätſelhafteſte aller Urwelt¬
geſchöpfe dahin: die zierlich kleine Archäopteryx, halb Vogel
mit Schwingen und Federkleid, halb Eidechſe mit langem
Schwanz und einem Maul voll ſpitzer Zähne. Nichts verrät,
wie ihre Liebe ſich vollzog. Wie die vielleicht märchenhaft
bunten Federfarben verblaßt ſind zu dem einförmigen Braun
des Solnhofener Schiefers, aus dem die beiden einzigen be¬
kannten Exemplare ſtammen, ſo iſt alles Erotiſche an ihm ver¬
ſchollen. Aber die Phantaſie ſieht auch ihn nach Vogelart ſein
Neſt bauen und Eier legen, ſieht die Geſchlechter ſich jagen in
den Lüften, ſieht das Männchen mit dem gewaltigen, doppel¬
reihig befiederten Schweif gaukeln und die Kraft ſeiner Liebe
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verſchollenem Wald am Geſtade eines verſchollenen Ozeans.

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[87/0103] die Krone unter allen Geſchöpfen zuzuerteilen hinſichtlich der Empfindungen, die er beim Geſchlechtsakt verſpürt haben muß. Dieſer Atlasdrache, der, wenn nicht die Erde, ſo doch ein kleines Haus ganz gut hätte auf dem Rücken herumſchleppen können, beſaß einen geradezu winzigen Schädelraum für das Gehirn, ſo klein, daß er nicht im entfernteſten Verhältnis zu den Proportionen des Geſamtkörpers auch nur nach ſonſtigem Reptilienmaß ſtand. Dafür aber erweiterte ſich der Hohlraum der Rückenwirbel gerade in der Gegend, die über den Ge¬ ſchlechtsteilen lag, ſo bedeutend, daß das Rückenmark hier etwa dreimal ſo dick geweſen ſein muß als das eigentliche Gehirn. Man hat geradezu von einem „Schwanzgehirn“ dieſer Tiere geſprochen, einem beſonderem Gehirn über dem Becken, das den hinteren Körperteil, vor allem den enorm ſchweren Schwanz, regieren half. Unwillkürlich bringt man dieſes Schwanzgehirn aber auch mit dem Geſchlechtsakt in Verbindung: man ahnt ungeheuerliche Nervenerregungen, die eine ſolche Anhäufung von Rückenmarkſubſtanz gerade in der kritiſchen Gegend ſehr wohl bedingen konnte. Hoch durch das Blau über dieſen ſchwerfälligen Scheu¬ ſalen ſchwang ſich das kunſtvollſte, rätſelhafteſte aller Urwelt¬ geſchöpfe dahin: die zierlich kleine Archäopteryx, halb Vogel mit Schwingen und Federkleid, halb Eidechſe mit langem Schwanz und einem Maul voll ſpitzer Zähne. Nichts verrät, wie ihre Liebe ſich vollzog. Wie die vielleicht märchenhaft bunten Federfarben verblaßt ſind zu dem einförmigen Braun des Solnhofener Schiefers, aus dem die beiden einzigen be¬ kannten Exemplare ſtammen, ſo iſt alles Erotiſche an ihm ver¬ ſchollen. Aber die Phantaſie ſieht auch ihn nach Vogelart ſein Neſt bauen und Eier legen, ſieht die Geſchlechter ſich jagen in den Lüften, ſieht das Männchen mit dem gewaltigen, doppel¬ reihig befiederten Schweif gaukeln und die Kraft ſeiner Liebe prahleriſch ankündigen .... ein verſchollenes Märchen, über verſchollenem Wald am Geſtade eines verſchollenen Ozeans.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/103>, abgerufen am 02.05.2024.