Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie weit sich ein Poet
eben würcklich müsse geschehen seyn, weil eine
Sage sich auf eine blosse Lügen und Erdichtung
gründen kan. Und diesen seinen Unverstand legt
K. noch deutlicher an den Tag, wenn er Bl.
276 Hrn. Breitinger deswegen einen Wider-
spruch aufbürden will:

"Er hatte gesezt, daß
"die Sage dem grösten Haufen mehr gefalle,
"als die wahrhafte Geschichte, und also zum
"voraus als bekannt angenommen, daß die-
"selbe wohl vorhanden seyn könne; welches
"er hier wieder in Zweifel zieht."

Obgleich
dem Hrn. Breitinger diese Frage, ob die der
Sage entgegen stehende wahrhafte Geschichte
wohl vorhanden seyn könne, nur nicht einmahl
mag in den Sinn gekommen seyn, und also die-
ser Widerspruch, neben hundert andern, sich
nirgends als in des J. A. K. Kopf selbsten befin-
det; so muß ich doch hier wegen des unbe-
stimmten Ausdrucks anmercken, daß, ob es
gleich nicht nothwendig und allgemein ist, doch
freylich die wahrhafte Geschichte, die der unge-
wissen Sage entgegen stehet, sehr oft wohl vor-
handen seyn kan.
Wenn z. E. die Sage erge-
hen würde, Hr. Prof. Gottsched habe der Fr.
Neuberin die wiederholte Aufführung des ihm
so widrigen Vorspieles durch einen hohen Be-
fehl verwehren können, so wüßte jedermann,
daß gerade das Gegentheil würcklich gesche-
hen und vorhanden, und daß er nicht verhin-
dern können, daß diese Frau nicht vollkom-
men über ihn triumphierte.

Wenn

Wie weit ſich ein Poet
eben wuͤrcklich muͤſſe geſchehen ſeyn, weil eine
Sage ſich auf eine bloſſe Luͤgen und Erdichtung
gruͤnden kan. Und dieſen ſeinen Unverſtand legt
K. noch deutlicher an den Tag, wenn er Bl.
276 Hrn. Breitinger deswegen einen Wider-
ſpruch aufbuͤrden will:

„Er hatte geſezt, daß
„die Sage dem groͤſten Haufen mehr gefalle,
„als die wahrhafte Geſchichte, und alſo zum
„voraus als bekannt angenommen, daß die-
„ſelbe wohl vorhanden ſeyn koͤnne; welches
„er hier wieder in Zweifel zieht.„

Obgleich
dem Hrn. Breitinger dieſe Frage, ob die der
Sage entgegen ſtehende wahrhafte Geſchichte
wohl vorhanden ſeyn koͤnne, nur nicht einmahl
mag in den Sinn gekommen ſeyn, und alſo die-
ſer Widerſpruch, neben hundert andern, ſich
nirgends als in des J. A. K. Kopf ſelbſten befin-
det; ſo muß ich doch hier wegen des unbe-
ſtimmten Ausdrucks anmercken, daß, ob es
gleich nicht nothwendig und allgemein iſt, doch
freylich die wahrhafte Geſchichte, die der unge-
wiſſen Sage entgegen ſtehet, ſehr oft wohl vor-
handen ſeyn kan.
Wenn z. E. die Sage erge-
hen wuͤrde, Hr. Prof. Gottſched habe der Fr.
Neuberin die wiederholte Auffuͤhrung des ihm
ſo widrigen Vorſpieles durch einen hohen Be-
fehl verwehren koͤnnen, ſo wuͤßte jedermann,
daß gerade das Gegentheil wuͤrcklich geſche-
hen und vorhanden, und daß er nicht verhin-
dern koͤnnen, daß dieſe Frau nicht vollkom-
men uͤber ihn triumphierte.

Wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0032" n="30"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Wie weit &#x017F;ich ein Poet</hi></fw><lb/>
eben wu&#x0364;rcklich mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;chehen &#x017F;eyn, weil eine<lb/>
Sage &#x017F;ich auf eine blo&#x017F;&#x017F;e Lu&#x0364;gen und Erdichtung<lb/>
gru&#x0364;nden kan. Und die&#x017F;en &#x017F;einen Unver&#x017F;tand legt<lb/>
K. noch deutlicher an den Tag, wenn er Bl.<lb/>
276 Hrn. Breitinger deswegen einen Wider-<lb/>
&#x017F;pruch aufbu&#x0364;rden will:</p><lb/>
        <cit>
          <quote>&#x201E;Er hatte ge&#x017F;ezt, daß<lb/>
&#x201E;die Sage dem gro&#x0364;&#x017F;ten Haufen mehr gefalle,<lb/>
&#x201E;als die wahrhafte Ge&#x017F;chichte, und al&#x017F;o zum<lb/>
&#x201E;voraus als bekannt angenommen, daß die-<lb/>
&#x201E;&#x017F;elbe wohl vorhanden &#x017F;eyn ko&#x0364;nne; welches<lb/>
&#x201E;er hier wieder in Zweifel zieht.&#x201E;</quote>
        </cit><lb/>
        <p>Obgleich<lb/>
dem Hrn. <hi rendition="#fr">Breitinger</hi> die&#x017F;e Frage, ob die der<lb/>
Sage entgegen &#x017F;tehende wahrhafte Ge&#x017F;chichte<lb/>
wohl vorhanden &#x017F;eyn ko&#x0364;nne, nur nicht einmahl<lb/>
mag in den Sinn gekommen &#x017F;eyn, und al&#x017F;o die-<lb/>
&#x017F;er Wider&#x017F;pruch, neben hundert andern, &#x017F;ich<lb/>
nirgends als in des J. A. K. Kopf &#x017F;elb&#x017F;ten befin-<lb/>
det; &#x017F;o muß ich doch hier wegen des unbe-<lb/>
&#x017F;timmten Ausdrucks anmercken, daß, ob es<lb/>
gleich nicht nothwendig und allgemein i&#x017F;t, doch<lb/>
freylich die wahrhafte Ge&#x017F;chichte, die der unge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Sage entgegen &#x017F;tehet, &#x017F;ehr oft <hi rendition="#fr">wohl vor-<lb/>
handen &#x017F;eyn kan.</hi> Wenn z. E. die Sage erge-<lb/>
hen wu&#x0364;rde, Hr. Prof. <hi rendition="#fr">Gott&#x017F;ched</hi> habe der Fr.<lb/>
Neuberin die wiederholte Auffu&#x0364;hrung des ihm<lb/>
&#x017F;o widrigen Vor&#x017F;pieles durch einen hohen Be-<lb/>
fehl verwehren ko&#x0364;nnen, &#x017F;o wu&#x0364;ßte jedermann,<lb/>
daß gerade das Gegentheil wu&#x0364;rcklich ge&#x017F;che-<lb/>
hen und vorhanden, und daß er nicht verhin-<lb/>
dern ko&#x0364;nnen, daß die&#x017F;e Frau nicht vollkom-<lb/>
men u&#x0364;ber ihn triumphierte.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Wenn</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0032] Wie weit ſich ein Poet eben wuͤrcklich muͤſſe geſchehen ſeyn, weil eine Sage ſich auf eine bloſſe Luͤgen und Erdichtung gruͤnden kan. Und dieſen ſeinen Unverſtand legt K. noch deutlicher an den Tag, wenn er Bl. 276 Hrn. Breitinger deswegen einen Wider- ſpruch aufbuͤrden will: „Er hatte geſezt, daß „die Sage dem groͤſten Haufen mehr gefalle, „als die wahrhafte Geſchichte, und alſo zum „voraus als bekannt angenommen, daß die- „ſelbe wohl vorhanden ſeyn koͤnne; welches „er hier wieder in Zweifel zieht.„ Obgleich dem Hrn. Breitinger dieſe Frage, ob die der Sage entgegen ſtehende wahrhafte Geſchichte wohl vorhanden ſeyn koͤnne, nur nicht einmahl mag in den Sinn gekommen ſeyn, und alſo die- ſer Widerſpruch, neben hundert andern, ſich nirgends als in des J. A. K. Kopf ſelbſten befin- det; ſo muß ich doch hier wegen des unbe- ſtimmten Ausdrucks anmercken, daß, ob es gleich nicht nothwendig und allgemein iſt, doch freylich die wahrhafte Geſchichte, die der unge- wiſſen Sage entgegen ſtehet, ſehr oft wohl vor- handen ſeyn kan. Wenn z. E. die Sage erge- hen wuͤrde, Hr. Prof. Gottſched habe der Fr. Neuberin die wiederholte Auffuͤhrung des ihm ſo widrigen Vorſpieles durch einen hohen Be- fehl verwehren koͤnnen, ſo wuͤßte jedermann, daß gerade das Gegentheil wuͤrcklich geſche- hen und vorhanden, und daß er nicht verhin- dern koͤnnen, daß dieſe Frau nicht vollkom- men uͤber ihn triumphierte. Wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/32
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/32>, abgerufen am 19.04.2024.