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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

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des Wahnes bedienen könne.
Wahrheit; er mag an sich selbst so ungereimt und
widersprechend seyn, als er immer will, weil doch
einmal Menschen gewesen sind, die denselben für
wahr gehalten haben. Da nun ein Poet in den
vornehmsten Stücken der Poesie, nemlich in dra-
matischen und epischen Gedichten, entweder gar
nicht, oder doch sehr sparsam in seinem eigenen
Nahmen redet; sondern gröstentheils fremde Per-
sonen redend einführet, so ist er nicht befugt ihnen
seine eigenen, obgleich vernünftigern und bessern
Gedancken und Urtheile von den Sachen zu leihen,
sondern er muß sie reden und urtheilen lassen, wie
es ihr Character, so ferne er aus der Historie be-
kannt ist, oder das Licht der damahligen Zeiten
wahrscheinlich mit sich bringt. Ein Wahn, er
mag übrigens noch so gottloß und irrig seyn, weil
er eine historische Wahrheit hat, gehöret nicht in
Utopien, sondern in die gegenwärtige würckliche
Welt, laut dem bekannten Sprüchwort: Es
könne nichts so ungereimtes und widersinniges er-
dacht werden, das nicht selbst einer von den Phi-
losophen jemals sollte gelehret haben. Von solcher
Art ist das Exempel der Biblis, welches J. A. K.
auf der 266. Seite aus Ovidius anführet. Jch
schäme mich fast die elenden Anmerckungen, wo-
mit er seine Critick zu rechtfertigen suchet, zu be-
rühren: Das vornemste kömmt wohl darauf an,
daß er behaupten will, ein vernünftiger und tugend-
liebender Scribent oder Poet könne ohne Verle-
zung seines Gewissens, und ohne den Verdacht,
daß er der Wahrheit und Tugend nicht allzu gewogen
sey, keine gottlose Personen und Character auf-

füh-
[Crit. Samml. XII. St.] B

des Wahnes bedienen koͤnne.
Wahrheit; er mag an ſich ſelbſt ſo ungereimt und
widerſprechend ſeyn, als er immer will, weil doch
einmal Menſchen geweſen ſind, die denſelben fuͤr
wahr gehalten haben. Da nun ein Poet in den
vornehmſten Stuͤcken der Poeſie, nemlich in dra-
matiſchen und epiſchen Gedichten, entweder gar
nicht, oder doch ſehr ſparſam in ſeinem eigenen
Nahmen redet; ſondern groͤſtentheils fremde Per-
ſonen redend einfuͤhret, ſo iſt er nicht befugt ihnen
ſeine eigenen, obgleich vernuͤnftigern und beſſern
Gedancken und Urtheile von den Sachen zu leihen,
ſondern er muß ſie reden und urtheilen laſſen, wie
es ihr Character, ſo ferne er aus der Hiſtorie be-
kannt iſt, oder das Licht der damahligen Zeiten
wahrſcheinlich mit ſich bringt. Ein Wahn, er
mag uͤbrigens noch ſo gottloß und irrig ſeyn, weil
er eine hiſtoriſche Wahrheit hat, gehoͤret nicht in
Utopien, ſondern in die gegenwaͤrtige wuͤrckliche
Welt, laut dem bekannten Spruͤchwort: Es
koͤnne nichts ſo ungereimtes und widerſinniges er-
dacht werden, das nicht ſelbſt einer von den Phi-
loſophen jemals ſollte gelehret haben. Von ſolcher
Art iſt das Exempel der Biblis, welches J. A. K.
auf der 266. Seite aus Ovidius anfuͤhret. Jch
ſchaͤme mich faſt die elenden Anmerckungen, wo-
mit er ſeine Critick zu rechtfertigen ſuchet, zu be-
ruͤhren: Das vornemſte koͤmmt wohl darauf an,
daß er behaupten will, ein vernuͤnftiger und tugend-
liebender Scribent oder Poet koͤnne ohne Verle-
zung ſeines Gewiſſens, und ohne den Verdacht,
daß er der Wahrheit und Tugend nicht allzu gewogen
ſey, keine gottloſe Perſonen und Character auf-

fuͤh-
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[17/0019] des Wahnes bedienen koͤnne. Wahrheit; er mag an ſich ſelbſt ſo ungereimt und widerſprechend ſeyn, als er immer will, weil doch einmal Menſchen geweſen ſind, die denſelben fuͤr wahr gehalten haben. Da nun ein Poet in den vornehmſten Stuͤcken der Poeſie, nemlich in dra- matiſchen und epiſchen Gedichten, entweder gar nicht, oder doch ſehr ſparſam in ſeinem eigenen Nahmen redet; ſondern groͤſtentheils fremde Per- ſonen redend einfuͤhret, ſo iſt er nicht befugt ihnen ſeine eigenen, obgleich vernuͤnftigern und beſſern Gedancken und Urtheile von den Sachen zu leihen, ſondern er muß ſie reden und urtheilen laſſen, wie es ihr Character, ſo ferne er aus der Hiſtorie be- kannt iſt, oder das Licht der damahligen Zeiten wahrſcheinlich mit ſich bringt. Ein Wahn, er mag uͤbrigens noch ſo gottloß und irrig ſeyn, weil er eine hiſtoriſche Wahrheit hat, gehoͤret nicht in Utopien, ſondern in die gegenwaͤrtige wuͤrckliche Welt, laut dem bekannten Spruͤchwort: Es koͤnne nichts ſo ungereimtes und widerſinniges er- dacht werden, das nicht ſelbſt einer von den Phi- loſophen jemals ſollte gelehret haben. Von ſolcher Art iſt das Exempel der Biblis, welches J. A. K. auf der 266. Seite aus Ovidius anfuͤhret. Jch ſchaͤme mich faſt die elenden Anmerckungen, wo- mit er ſeine Critick zu rechtfertigen ſuchet, zu be- ruͤhren: Das vornemſte koͤmmt wohl darauf an, daß er behaupten will, ein vernuͤnftiger und tugend- liebender Scribent oder Poet koͤnne ohne Verle- zung ſeines Gewiſſens, und ohne den Verdacht, daß er der Wahrheit und Tugend nicht allzu gewogen ſey, keine gottloſe Perſonen und Character auf- fuͤh- [Crit. Sam̃l. XII. St.] B

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/19>, abgerufen am 25.04.2024.