Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

Bild:
<< vorherige Seite

des Wahnes bedienen könne.
erwiesen werden kan. Und was ungewiß ist, kan
demnach bey dem Zuwachs eines mehrern Lichts
der Erkenntaiß wahr, oder falsch und irrig befun-
den werden. Befindet man bey genauerer Einsicht
und Untersuchung einer Sache, daß der vorgefaßte
Wahn von derselben ohnbegründet und darum irrig
und falsch ist, so sagt man mit Recht, das sey bis-
dahin ein irriger Wahn gewesen, weil sich nem-
lich iezund offenbar zeiget, daß der Wahn, den
man von einer Sache gefasset hatte, Jrrthum ist.
Befindet sich aber in der Untersuchung das Ge-
gentheil, nemlich daß der Wahn, den man von
einer Sache gehabt, würcklich nicht ohne zurei-
chenden Grund, folglich gewiß und wahr ist, so nen-
net man ihn schlechtweg einen Wahn, weil man das-
jenige bisdahin ohne genugsamen Grund für wahr
und gewiß gehalten, was zwar als wahr befun-
den wird; das man aber nichts destoweniger auch für
wahr gehalten hätte, wenn es gleich in der nähe-
ren Untersuchung als falsch wäre befunden worden.
Der Wahn entspringet hiemit aus einem übereil-
ten Urtheil von Sachen, die man nicht genugsam
untersucht und geprüffet hat, deren Wahrheit oder
Falschheit man nicht erkennet, da man den Schein
für das Wesen nimmt, und wo man vernünftiger
Weise sein Urtheil zurückhalten sollte. Eine Mey-
nung
ist endlich, wenn man in zweifelhaften Sa-
chen und Fällen nach gewissen Wahrscheinlichkei-
ten etwas als sicherer, besser und nützlicher bey
sich fest setzet: Wo diese Wahrscheinlichkeiten, nach
welchen sich unsre Meynungen richten, fehl schla-
gen oder nicht eintreffen, da kan unsre Meynung
betriegen.

Man
A 5

des Wahnes bedienen koͤnne.
erwieſen werden kan. Und was ungewiß iſt, kan
demnach bey dem Zuwachs eines mehrern Lichts
der Erkenntaiß wahr, oder falſch und irrig befun-
den werden. Befindet man bey genauerer Einſicht
und Unterſuchung einer Sache, daß der vorgefaßte
Wahn von derſelben ohnbegruͤndet und darum irrig
und falſch iſt, ſo ſagt man mit Recht, das ſey bis-
dahin ein irriger Wahn geweſen, weil ſich nem-
lich iezund offenbar zeiget, daß der Wahn, den
man von einer Sache gefaſſet hatte, Jrrthum iſt.
Befindet ſich aber in der Unterſuchung das Ge-
gentheil, nemlich daß der Wahn, den man von
einer Sache gehabt, wuͤrcklich nicht ohne zurei-
chenden Grund, folglich gewiß und wahr iſt, ſo nen-
net man ihn ſchlechtweg einen Wahn, weil man das-
jenige bisdahin ohne genugſamen Grund fuͤr wahr
und gewiß gehalten, was zwar als wahr befun-
den wird; das man aber nichts deſtoweniger auch fuͤr
wahr gehalten haͤtte, wenn es gleich in der naͤhe-
ren Unterſuchung als falſch waͤre befunden worden.
Der Wahn entſpringet hiemit aus einem uͤbereil-
ten Urtheil von Sachen, die man nicht genugſam
unterſucht und gepruͤffet hat, deren Wahrheit oder
Falſchheit man nicht erkennet, da man den Schein
fuͤr das Weſen nimmt, und wo man vernuͤnftiger
Weiſe ſein Urtheil zuruͤckhalten ſollte. Eine Mey-
nung
iſt endlich, wenn man in zweifelhaften Sa-
chen und Faͤllen nach gewiſſen Wahrſcheinlichkei-
ten etwas als ſicherer, beſſer und nuͤtzlicher bey
ſich feſt ſetzet: Wo dieſe Wahrſcheinlichkeiten, nach
welchen ſich unſre Meynungen richten, fehl ſchla-
gen oder nicht eintreffen, da kan unſre Meynung
betriegen.

Man
A 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0011" n="9"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des Wahnes bedienen ko&#x0364;nne.</hi></fw><lb/>
erwie&#x017F;en werden kan. Und was ungewiß i&#x017F;t, kan<lb/>
demnach bey dem Zuwachs eines mehrern Lichts<lb/>
der Erkenntaiß wahr, oder fal&#x017F;ch und irrig befun-<lb/>
den werden. Befindet man bey genauerer Ein&#x017F;icht<lb/>
und Unter&#x017F;uchung einer Sache, daß der vorgefaßte<lb/>
Wahn von der&#x017F;elben ohnbegru&#x0364;ndet und darum irrig<lb/>
und fal&#x017F;ch i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;agt man mit Recht, das &#x017F;ey bis-<lb/>
dahin ein <hi rendition="#fr">irriger Wahn</hi> gewe&#x017F;en, weil &#x017F;ich nem-<lb/>
lich iezund offenbar zeiget, daß der Wahn, den<lb/>
man von einer Sache gefa&#x017F;&#x017F;et hatte, Jrrthum i&#x017F;t.<lb/>
Befindet &#x017F;ich aber in der Unter&#x017F;uchung das Ge-<lb/>
gentheil, nemlich daß der Wahn, den man von<lb/>
einer Sache gehabt, wu&#x0364;rcklich nicht ohne zurei-<lb/>
chenden Grund, folglich gewiß und wahr i&#x017F;t, &#x017F;o nen-<lb/>
net man ihn &#x017F;chlechtweg einen <hi rendition="#fr">Wahn,</hi> weil man das-<lb/>
jenige bisdahin ohne genug&#x017F;amen Grund fu&#x0364;r wahr<lb/>
und gewiß gehalten, was zwar als wahr befun-<lb/>
den wird; das man aber nichts de&#x017F;toweniger auch fu&#x0364;r<lb/>
wahr gehalten ha&#x0364;tte, wenn es gleich in der na&#x0364;he-<lb/>
ren Unter&#x017F;uchung als fal&#x017F;ch wa&#x0364;re befunden worden.<lb/>
Der Wahn ent&#x017F;pringet hiemit aus einem u&#x0364;bereil-<lb/>
ten Urtheil von Sachen, die man nicht genug&#x017F;am<lb/>
unter&#x017F;ucht und gepru&#x0364;ffet hat, deren Wahrheit oder<lb/>
Fal&#x017F;chheit man nicht erkennet, da man den Schein<lb/>
fu&#x0364;r das We&#x017F;en nimmt, und wo man vernu&#x0364;nftiger<lb/>
Wei&#x017F;e &#x017F;ein Urtheil zuru&#x0364;ckhalten &#x017F;ollte. Eine <hi rendition="#fr">Mey-<lb/>
nung</hi> i&#x017F;t endlich, wenn man in zweifelhaften Sa-<lb/>
chen und Fa&#x0364;llen nach gewi&#x017F;&#x017F;en Wahr&#x017F;cheinlichkei-<lb/>
ten etwas als &#x017F;icherer, be&#x017F;&#x017F;er und nu&#x0364;tzlicher bey<lb/>
&#x017F;ich fe&#x017F;t &#x017F;etzet: Wo die&#x017F;e Wahr&#x017F;cheinlichkeiten, nach<lb/>
welchen &#x017F;ich un&#x017F;re Meynungen richten, fehl &#x017F;chla-<lb/>
gen oder nicht eintreffen, da kan un&#x017F;re Meynung<lb/>
betriegen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">A 5</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">Man</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0011] des Wahnes bedienen koͤnne. erwieſen werden kan. Und was ungewiß iſt, kan demnach bey dem Zuwachs eines mehrern Lichts der Erkenntaiß wahr, oder falſch und irrig befun- den werden. Befindet man bey genauerer Einſicht und Unterſuchung einer Sache, daß der vorgefaßte Wahn von derſelben ohnbegruͤndet und darum irrig und falſch iſt, ſo ſagt man mit Recht, das ſey bis- dahin ein irriger Wahn geweſen, weil ſich nem- lich iezund offenbar zeiget, daß der Wahn, den man von einer Sache gefaſſet hatte, Jrrthum iſt. Befindet ſich aber in der Unterſuchung das Ge- gentheil, nemlich daß der Wahn, den man von einer Sache gehabt, wuͤrcklich nicht ohne zurei- chenden Grund, folglich gewiß und wahr iſt, ſo nen- net man ihn ſchlechtweg einen Wahn, weil man das- jenige bisdahin ohne genugſamen Grund fuͤr wahr und gewiß gehalten, was zwar als wahr befun- den wird; das man aber nichts deſtoweniger auch fuͤr wahr gehalten haͤtte, wenn es gleich in der naͤhe- ren Unterſuchung als falſch waͤre befunden worden. Der Wahn entſpringet hiemit aus einem uͤbereil- ten Urtheil von Sachen, die man nicht genugſam unterſucht und gepruͤffet hat, deren Wahrheit oder Falſchheit man nicht erkennet, da man den Schein fuͤr das Weſen nimmt, und wo man vernuͤnftiger Weiſe ſein Urtheil zuruͤckhalten ſollte. Eine Mey- nung iſt endlich, wenn man in zweifelhaften Sa- chen und Faͤllen nach gewiſſen Wahrſcheinlichkei- ten etwas als ſicherer, beſſer und nuͤtzlicher bey ſich feſt ſetzet: Wo dieſe Wahrſcheinlichkeiten, nach welchen ſich unſre Meynungen richten, fehl ſchla- gen oder nicht eintreffen, da kan unſre Meynung betriegen. Man A 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/11
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/11>, abgerufen am 20.04.2024.