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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743.

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eine poetische Erzehlung.
Mittag die Dunckelheit nicht einmahl vertrei-
ben kan. Jch sehe schon die schwartzen Klüfte,
die ein immerwährendes Schrecken und Ver-
zweiflen anfüllet; den Schwarm unseliger Gei-
ster, die sich ächzend um das Gestade herum
drängen, und denen ein hartes Schicksal den
Durchgang in das selige Reich versperret. Jch
rieche schon den schweflichten Duft des Cocytus;
Jch höre schon von fehrnen das höllische Getüm-
mel. Ein Brausen fällt mir für die Ohren; ein
plötzlicher Nebel drehet alles vor mir um; ein
Schauer durchfährt mich; die Glieder fangen
an zu beben; und das Blut wird mir in den A-
dern kalt.

Er sagte dieses und die Rede erstarb in seinem
Munde. Er sah sich noch einmahl erblasset um,
und hieng mit dem Leibe über dem schwartzen
Abgrund, wo gräßliche Thiere schon gegen ihn
die Zähne blöketen, schlüpfte mit den Füssen
aus, und eilete mit schnellem Falle dem Tode zu.
Dreymahl wiederholte seine Laute den lezten
Schlag noch in dem Falle mit Seufzen; da der
erste Ton sich schon längst in die Luft verlohren
hatte. Die Meervögel unterbrachen ihren Flug;
andere kamen vom fernen Lande her; und da
sie das Ende seines Gesanges ausgewartet hat-
ten, eilten sie mit klagendem Geschrey weg, da-
mit sie seinen Untergang nicht ansehen müßten.
Philomela wurde ihrer Wunde wiederum inne,
die sie damahls schmertzte, als die harte Faust
des Weidmanns ihr die nackete Zucht wegge-
raubet; da sie bey dicker Nacht auf einsamen

Zwei-
[Crit. Samml. XI. St.] F

eine poetiſche Erzehlung.
Mittag die Dunckelheit nicht einmahl vertrei-
ben kan. Jch ſehe ſchon die ſchwartzen Kluͤfte,
die ein immerwaͤhrendes Schrecken und Ver-
zweiflen anfuͤllet; den Schwarm unſeliger Gei-
ſter, die ſich aͤchzend um das Geſtade herum
draͤngen, und denen ein hartes Schickſal den
Durchgang in das ſelige Reich verſperret. Jch
rieche ſchon den ſchweflichten Duft des Cocytus;
Jch hoͤre ſchon von fehrnen das hoͤlliſche Getuͤm-
mel. Ein Brauſen faͤllt mir fuͤr die Ohren; ein
ploͤtzlicher Nebel drehet alles vor mir um; ein
Schauer durchfaͤhrt mich; die Glieder fangen
an zu beben; und das Blut wird mir in den A-
dern kalt.

Er ſagte dieſes und die Rede erſtarb in ſeinem
Munde. Er ſah ſich noch einmahl erblaſſet um,
und hieng mit dem Leibe uͤber dem ſchwartzen
Abgrund, wo graͤßliche Thiere ſchon gegen ihn
die Zaͤhne bloͤketen, ſchluͤpfte mit den Fuͤſſen
aus, und eilete mit ſchnellem Falle dem Tode zu.
Dreymahl wiederholte ſeine Laute den lezten
Schlag noch in dem Falle mit Seufzen; da der
erſte Ton ſich ſchon laͤngſt in die Luft verlohren
hatte. Die Meervoͤgel unterbrachen ihren Flug;
andere kamen vom fernen Lande her; und da
ſie das Ende ſeines Geſanges ausgewartet hat-
ten, eilten ſie mit klagendem Geſchrey weg, da-
mit ſie ſeinen Untergang nicht anſehen muͤßten.
Philomela wurde ihrer Wunde wiederum inne,
die ſie damahls ſchmertzte, als die harte Fauſt
des Weidmanns ihr die nackete Zucht wegge-
raubet; da ſie bey dicker Nacht auf einſamen

Zwei-
[Crit. Sam̃l. XI. St.] F
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[81/0083] eine poetiſche Erzehlung. Mittag die Dunckelheit nicht einmahl vertrei- ben kan. Jch ſehe ſchon die ſchwartzen Kluͤfte, die ein immerwaͤhrendes Schrecken und Ver- zweiflen anfuͤllet; den Schwarm unſeliger Gei- ſter, die ſich aͤchzend um das Geſtade herum draͤngen, und denen ein hartes Schickſal den Durchgang in das ſelige Reich verſperret. Jch rieche ſchon den ſchweflichten Duft des Cocytus; Jch hoͤre ſchon von fehrnen das hoͤlliſche Getuͤm- mel. Ein Brauſen faͤllt mir fuͤr die Ohren; ein ploͤtzlicher Nebel drehet alles vor mir um; ein Schauer durchfaͤhrt mich; die Glieder fangen an zu beben; und das Blut wird mir in den A- dern kalt. Er ſagte dieſes und die Rede erſtarb in ſeinem Munde. Er ſah ſich noch einmahl erblaſſet um, und hieng mit dem Leibe uͤber dem ſchwartzen Abgrund, wo graͤßliche Thiere ſchon gegen ihn die Zaͤhne bloͤketen, ſchluͤpfte mit den Fuͤſſen aus, und eilete mit ſchnellem Falle dem Tode zu. Dreymahl wiederholte ſeine Laute den lezten Schlag noch in dem Falle mit Seufzen; da der erſte Ton ſich ſchon laͤngſt in die Luft verlohren hatte. Die Meervoͤgel unterbrachen ihren Flug; andere kamen vom fernen Lande her; und da ſie das Ende ſeines Geſanges ausgewartet hat- ten, eilten ſie mit klagendem Geſchrey weg, da- mit ſie ſeinen Untergang nicht anſehen muͤßten. Philomela wurde ihrer Wunde wiederum inne, die ſie damahls ſchmertzte, als die harte Fauſt des Weidmanns ihr die nackete Zucht wegge- raubet; da ſie bey dicker Nacht auf einſamen Zwei- [Crit. Sam̃l. XI. St.] F

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 11. Zürich, 1743, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung11_1743/83>, abgerufen am 24.11.2024.