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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 9. Zürich, 1749.

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von Horazens Dichtkunst.
Kein Tiger zeug ein Lamm, kein Adler hecke Schlangen.
Doch
nicht Dinge von widerwärtiger Natur mit einander verbin-
den, und also bey dem Wunderbaren in der Dichtung die
Wahrscheinlichkeit nicht gäntzlich aus den Augen setzen:
Und diesen allgemeinen Lehrsatz erläutert er hernach mit
zwey Beyspielen:
......... Non ut
Serpentes avibus geminentur, tigribus agni.

Weil nemlich in der Natur, und darum auch in wahr-
scheinlichen Fabeln, ein Tiger und ein Lamm, eine
Schlange und die Vögel, sich nicht wohl mit einander ver-
tragen, und niemals in Freundschaft mit einander leben.
Der deutsche Uebersetzer hergegen verwandelt den Lehrsatz
in ei[n] ganz absonderliches Exempel, von unbeseelten Dingen,
die ob sie gleich gantz widerwärtiger Natur sind, gleich-
wohl täglich zusammen vermischt werden. Das Feuer
wird in das Stroh gemischet, wenn man das Stroh an-
zündet: Will nun Hr. Gottsched verbieten, daß man kein
Stroh mehr anzünde, oder den Dichter einer Kühnheit
bezüchtigen, der erzehlet, man habe Stroh angezündet,
welches ja auf keine andere Weise möglich ist, als daß
man Feuer in das Stroh mische.
V. 19. Kein Tiger zeug ein Lamm, kein Adler hecke
Schlangen.)

Dieser Gottschedische Imperativus hat seine Beziehung
nicht auf die Natur, sondern auf die Schrift eines Poe-
ten: Denn Gottsched will nicht den Thieren, sondern den
Poeten Maßregeln fürschreiben. Jn der nachlezten Aus-
gabe lieset man zeugt, heckt. Aber seit einigen Jahren
ist dem Uebersetzer der Imperativus geläuffiger worden.
Jn dem Grundtext wird diese Verbindung widerwärtiger
Thiere durch das geminentur gar deutlich dem Poeten zu-
geschrieben.
F 4
von Horazens Dichtkunſt.
Kein Tiger zeug ein Lamm, kein Adler hecke Schlangen.
Doch
nicht Dinge von widerwaͤrtiger Natur mit einander verbin-
den, und alſo bey dem Wunderbaren in der Dichtung die
Wahrſcheinlichkeit nicht gaͤntzlich aus den Augen ſetzen:
Und dieſen allgemeinen Lehrſatz erlaͤutert er hernach mit
zwey Beyſpielen:
......... Non ut
Serpentes avibus geminentur, tigribus agni.

Weil nemlich in der Natur, und darum auch in wahr-
ſcheinlichen Fabeln, ein Tiger und ein Lamm, eine
Schlange und die Voͤgel, ſich nicht wohl mit einander ver-
tragen, und niemals in Freundſchaft mit einander leben.
Der deutſche Ueberſetzer hergegen verwandelt den Lehrſatz
in ei[n] ganz abſonderliches Exempel, von unbeſeelten Dingen,
die ob ſie gleich gantz widerwaͤrtiger Natur ſind, gleich-
wohl taͤglich zuſammen vermiſcht werden. Das Feuer
wird in das Stroh gemiſchet, wenn man das Stroh an-
zuͤndet: Will nun Hr. Gottſched verbieten, daß man kein
Stroh mehr anzuͤnde, oder den Dichter einer Kuͤhnheit
bezuͤchtigen, der erzehlet, man habe Stroh angezuͤndet,
welches ja auf keine andere Weiſe moͤglich iſt, als daß
man Feuer in das Stroh miſche.
V. 19. Kein Tiger zeug ein Lamm, kein Adler hecke
Schlangen.)

Dieſer Gottſchediſche Imperativus hat ſeine Beziehung
nicht auf die Natur, ſondern auf die Schrift eines Poe-
ten: Denn Gottſched will nicht den Thieren, ſondern den
Poeten Maßregeln fuͤrſchreiben. Jn der nachlezten Aus-
gabe lieſet man zeugt, heckt. Aber ſeit einigen Jahren
iſt dem Ueberſetzer der Imperativus gelaͤuffiger worden.
Jn dem Grundtext wird dieſe Verbindung widerwaͤrtiger
Thiere durch das geminentur gar deutlich dem Poeten zu-
geſchrieben.
F 4
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[87/0087] von Horazens Dichtkunſt. Kein Tiger zeug ein Lamm, kein Adler hecke Schlangen. Doch V. 19. Kein Tiger zeug ein Lamm, kein Adler hecke Schlangen.) Dieſer Gottſchediſche Imperativus hat ſeine Beziehung nicht auf die Natur, ſondern auf die Schrift eines Poe- ten: Denn Gottſched will nicht den Thieren, ſondern den Poeten Maßregeln fuͤrſchreiben. Jn der nachlezten Aus- gabe lieſet man zeugt, heckt. Aber ſeit einigen Jahren iſt dem Ueberſetzer der Imperativus gelaͤuffiger worden. Jn dem Grundtext wird dieſe Verbindung widerwaͤrtiger Thiere durch das geminentur gar deutlich dem Poeten zu- geſchrieben. nicht Dinge von widerwaͤrtiger Natur mit einander verbin- den, und alſo bey dem Wunderbaren in der Dichtung die Wahrſcheinlichkeit nicht gaͤntzlich aus den Augen ſetzen: Und dieſen allgemeinen Lehrſatz erlaͤutert er hernach mit zwey Beyſpielen: ......... Non ut Serpentes avibus geminentur, tigribus agni. Weil nemlich in der Natur, und darum auch in wahr- ſcheinlichen Fabeln, ein Tiger und ein Lamm, eine Schlange und die Voͤgel, ſich nicht wohl mit einander ver- tragen, und niemals in Freundſchaft mit einander leben. Der deutſche Ueberſetzer hergegen verwandelt den Lehrſatz in ein ganz abſonderliches Exempel, von unbeſeelten Dingen, die ob ſie gleich gantz widerwaͤrtiger Natur ſind, gleich- wohl taͤglich zuſammen vermiſcht werden. Das Feuer wird in das Stroh gemiſchet, wenn man das Stroh an- zuͤndet: Will nun Hr. Gottſched verbieten, daß man kein Stroh mehr anzuͤnde, oder den Dichter einer Kuͤhnheit bezuͤchtigen, der erzehlet, man habe Stroh angezuͤndet, welches ja auf keine andere Weiſe moͤglich iſt, als daß man Feuer in das Stroh miſche. F 4

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 9. Zürich, 1749, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung09_1743/87>, abgerufen am 22.11.2024.