"ze, so lasse ich doch dahin gestellet seyn, ob nicht "die Ehrerbiethung gegen das Alterthum hierin "manchmahl zu weit gehe, wenn man desselben "Poesien zum Theil vor so unvergleichlich hält, "daß sie alle heutige weit übertreffen sollen. Wahr "ist es, daß die lateinischen Redensarten guten- "theils kürtzer als die Deutschen sind, und man- "ches mahl vor andern Sprachen viel mit weni- "gem sagen können; doch ist dieses eben nicht so "allgemein, daß nicht auch im Deutschen sehr "viel sich ja so kurtz, und nachdrücklich sollte ge- "ben lassen. - - Die vormahlige heidnische "Mythologie gab den Poeten gleichfalls einen "grossen Vorrath von Nahmen und Göttern, "die nicht nur sich überall, wie die Scharwen- "zel gebrauchen liessen, sondern auch Gelegen- "heit zu hunderterley Erfindungen gaben, de- "ren man heutiges Tags müssig gehen muß. Und "ist in diesem Ansehen freylich wahr, daß ein "solches Heldengedichte, wie Virgilius von sei- "nem Eneas aufgesetzet, nicht wohl mehr ge- "schrieben werden könne. Ob es aber deßwegen "nicht in seiner heutigen, obschon von jener unter- "schiedenen Art, eben so gut zu machen stühnde, "ist eine andre Frage, die meines Bedünckens "nicht so schlechterdings muß verneinet werden. "Dann daß man meinet, es könne kein Helden- "gedichte vollkommen seyn, wo es nicht mit über- "natürlichen Wunderfällen den Leser hier und da "erstaunen machet, ist ein handgreiflich falsches "Vorurtheil, nach welchem die Leute vor die- "sem dasjenige am liebsten hatten, was in ih-
"nen
Nachrichten von dem Urſprunge
„ze, ſo laſſe ich doch dahin geſtellet ſeyn, ob nicht „die Ehrerbiethung gegen das Alterthum hierin „manchmahl zu weit gehe, wenn man deſſelben „Poeſien zum Theil vor ſo unvergleichlich haͤlt, „daß ſie alle heutige weit uͤbertreffen ſollen. Wahr „iſt es, daß die lateiniſchen Redensarten guten- „theils kuͤrtzer als die Deutſchen ſind, und man- „ches mahl vor andern Sprachen viel mit weni- „gem ſagen koͤnnen; doch iſt dieſes eben nicht ſo „allgemein, daß nicht auch im Deutſchen ſehr „viel ſich ja ſo kurtz, und nachdruͤcklich ſollte ge- „ben laſſen. ‒ ‒ Die vormahlige heidniſche „Mythologie gab den Poeten gleichfalls einen „groſſen Vorrath von Nahmen und Goͤttern, „die nicht nur ſich uͤberall, wie die Scharwen- „zel gebrauchen lieſſen, ſondern auch Gelegen- „heit zu hunderterley Erfindungen gaben, de- „ren man heutiges Tags muͤſſig gehen muß. Und „iſt in dieſem Anſehen freylich wahr, daß ein „ſolches Heldengedichte, wie Virgilius von ſei- „nem Eneas aufgeſetzet, nicht wohl mehr ge- „ſchrieben werden koͤnne. Ob es aber deßwegen „nicht in ſeiner heutigen, obſchon von jener unter- „ſchiedenen Art, eben ſo gut zu machen ſtuͤhnde, „iſt eine andre Frage, die meines Beduͤnckens „nicht ſo ſchlechterdings muß verneinet werden. „Dann daß man meinet, es koͤnne kein Helden- „gedichte vollkommen ſeyn, wo es nicht mit uͤber- „natuͤrlichen Wunderfaͤllen den Leſer hier und da „erſtaunen machet, iſt ein handgreiflich falſches „Vorurtheil, nach welchem die Leute vor die- „ſem dasjenige am liebſten hatten, was in ih-
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Nachrichten von dem Urſprunge
„ze, ſo laſſe ich doch dahin geſtellet ſeyn, ob nicht
„die Ehrerbiethung gegen das Alterthum hierin
„manchmahl zu weit gehe, wenn man deſſelben
„Poeſien zum Theil vor ſo unvergleichlich haͤlt,
„daß ſie alle heutige weit uͤbertreffen ſollen. Wahr
„iſt es, daß die lateiniſchen Redensarten guten-
„theils kuͤrtzer als die Deutſchen ſind, und man-
„ches mahl vor andern Sprachen viel mit weni-
„gem ſagen koͤnnen; doch iſt dieſes eben nicht ſo
„allgemein, daß nicht auch im Deutſchen ſehr
„viel ſich ja ſo kurtz, und nachdruͤcklich ſollte ge-
„ben laſſen. ‒ ‒ Die vormahlige heidniſche
„Mythologie gab den Poeten gleichfalls einen
„groſſen Vorrath von Nahmen und Goͤttern,
„die nicht nur ſich uͤberall, wie die Scharwen-
„zel gebrauchen lieſſen, ſondern auch Gelegen-
„heit zu hunderterley Erfindungen gaben, de-
„ren man heutiges Tags muͤſſig gehen muß. Und
„iſt in dieſem Anſehen freylich wahr, daß ein
„ſolches Heldengedichte, wie Virgilius von ſei-
„nem Eneas aufgeſetzet, nicht wohl mehr ge-
„ſchrieben werden koͤnne. Ob es aber deßwegen
„nicht in ſeiner heutigen, obſchon von jener unter-
„ſchiedenen Art, eben ſo gut zu machen ſtuͤhnde,
„iſt eine andre Frage, die meines Beduͤnckens
„nicht ſo ſchlechterdings muß verneinet werden.
„Dann daß man meinet, es koͤnne kein Helden-
„gedichte vollkommen ſeyn, wo es nicht mit uͤber-
„natuͤrlichen Wunderfaͤllen den Leſer hier und da
„erſtaunen machet, iſt ein handgreiflich falſches
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„ſem dasjenige am liebſten hatten, was in ih-
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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/128>, abgerufen am 16.02.2025.
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