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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften
mentreffen. Die Natur hat allen Dingen be-
queme Grenzen bestimmt, und den Steigens be-
gierigen Witz des stolzen Menschen weislich nie-
dergebogen. So wie die See, wenn sie an ei-
nem Orte etwas an Lande gewinnt, am andern
weite Sandfelder zurück läßt, so gehet es auch
mit unserer Seele. Weil das Gedächtniß darin-
nen vortrift, so fehlt es an den höhern Kräften
des Verstandes. Und wo die Strahlen der
warmen Einbildungskraft spielen, da pflegen die
zarten Bilder des Gedächtnisses hinweg zu schmel-
zen. Für einen Geist schickt sich nur eine Wissen-
schaft. So groß ist der Umfang der Kunst, und
so enge sind des Verstandes Grenzen. Ja wir
müssen uns nicht nur an eine einige Wissenschaft,
sondern offt allein an einzele Theile derselben be-
schräncken. Sonst geht es uns wie einem Mo-
narchen, der die bereits gemachten Eroberungen
verliehret, weil er aus Ehrgeitz immer neue ma-
chen will. Jeder würde seinen Posten wohl be-
haupten, wenn er sich nur an das hielte, was
er verstehet.

Zuvorderst folget der Natur und messet euer
Urtheil nach ihrem gerechten und unänderlichen
Probmaasse. Sie irret niemahls. Sie ist ein
klares, ein allgemeines, ein unwandelbares Licht.
Sie giebt allem Kraft, Leben und Schönheit.
Sie ist zugleich die Quelle, der Endzweck und
die Probregel der Kunst. Aus ihrem Vorrath
nimmt die Kunst alles, was sie mit Rechte braucht.
Sie wircket ohne sich zu zeigen und herrschet ohne
Gepränge. So macht es in einem schönen Lei-

be

Verſuch von den Eigenſchaften
mentreffen. Die Natur hat allen Dingen be-
queme Grenzen beſtimmt, und den Steigens be-
gierigen Witz des ſtolzen Menſchen weislich nie-
dergebogen. So wie die See, wenn ſie an ei-
nem Orte etwas an Lande gewinnt, am andern
weite Sandfelder zuruͤck laͤßt, ſo gehet es auch
mit unſerer Seele. Weil das Gedaͤchtniß darin-
nen vortrift, ſo fehlt es an den hoͤhern Kraͤften
des Verſtandes. Und wo die Strahlen der
warmen Einbildungskraft ſpielen, da pflegen die
zarten Bilder des Gedaͤchtniſſes hinweg zu ſchmel-
zen. Fuͤr einen Geiſt ſchickt ſich nur eine Wiſſen-
ſchaft. So groß iſt der Umfang der Kunſt, und
ſo enge ſind des Verſtandes Grenzen. Ja wir
muͤſſen uns nicht nur an eine einige Wiſſenſchaft,
ſondern offt allein an einzele Theile derſelben be-
ſchraͤncken. Sonſt geht es uns wie einem Mo-
narchen, der die bereits gemachten Eroberungen
verliehret, weil er aus Ehrgeitz immer neue ma-
chen will. Jeder wuͤrde ſeinen Poſten wohl be-
haupten, wenn er ſich nur an das hielte, was
er verſtehet.

Zuvorderſt folget der Natur und meſſet euer
Urtheil nach ihrem gerechten und unaͤnderlichen
Probmaaſſe. Sie irret niemahls. Sie iſt ein
klares, ein allgemeines, ein unwandelbares Licht.
Sie giebt allem Kraft, Leben und Schoͤnheit.
Sie iſt zugleich die Quelle, der Endzweck und
die Probregel der Kunſt. Aus ihrem Vorrath
nimmt die Kunſt alles, was ſie mit Rechte braucht.
Sie wircket ohne ſich zu zeigen und herrſchet ohne
Gepraͤnge. So macht es in einem ſchoͤnen Lei-

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[54/0070] Verſuch von den Eigenſchaften mentreffen. Die Natur hat allen Dingen be- queme Grenzen beſtimmt, und den Steigens be- gierigen Witz des ſtolzen Menſchen weislich nie- dergebogen. So wie die See, wenn ſie an ei- nem Orte etwas an Lande gewinnt, am andern weite Sandfelder zuruͤck laͤßt, ſo gehet es auch mit unſerer Seele. Weil das Gedaͤchtniß darin- nen vortrift, ſo fehlt es an den hoͤhern Kraͤften des Verſtandes. Und wo die Strahlen der warmen Einbildungskraft ſpielen, da pflegen die zarten Bilder des Gedaͤchtniſſes hinweg zu ſchmel- zen. Fuͤr einen Geiſt ſchickt ſich nur eine Wiſſen- ſchaft. So groß iſt der Umfang der Kunſt, und ſo enge ſind des Verſtandes Grenzen. Ja wir muͤſſen uns nicht nur an eine einige Wiſſenſchaft, ſondern offt allein an einzele Theile derſelben be- ſchraͤncken. Sonſt geht es uns wie einem Mo- narchen, der die bereits gemachten Eroberungen verliehret, weil er aus Ehrgeitz immer neue ma- chen will. Jeder wuͤrde ſeinen Poſten wohl be- haupten, wenn er ſich nur an das hielte, was er verſtehet. Zuvorderſt folget der Natur und meſſet euer Urtheil nach ihrem gerechten und unaͤnderlichen Probmaaſſe. Sie irret niemahls. Sie iſt ein klares, ein allgemeines, ein unwandelbares Licht. Sie giebt allem Kraft, Leben und Schoͤnheit. Sie iſt zugleich die Quelle, der Endzweck und die Probregel der Kunſt. Aus ihrem Vorrath nimmt die Kunſt alles, was ſie mit Rechte braucht. Sie wircket ohne ſich zu zeigen und herrſchet ohne Gepraͤnge. So macht es in einem ſchoͤnen Lei- be

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/70>, abgerufen am 27.04.2024.