und verwirrt sie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt die Gunst der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die Gegner zur Feindschaft und weckt allgemeine Mißgunst. Der Stärkste selbst, wenn er Sieger wird, fühlt sich nach dem unübertrefflichen Aus- drucke Rousseau's nicht stark genug ohne das Recht und wird seines Sieges erst froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche An- erkennung des Rechts zu verschaffen. Wenn der Sieg dauernde und in- sofern nothwendige Wirkungen hervorbringt, so bestimmt er wirklich die Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.
In der Jugendperiode der germanischen Völker und theilweise noch im Mittelalter war es mit dem Rechtsschutze des Privat- und des Straf- rechts nicht viel besser bestellt. Die männliche Selbsthülfe war auch da eine gewöhnliche Form der Rechtshülfe. Mit den Waffen in der Hand vertheidigte der Eigenthümer den Frieden seines Hauses, der Gläubiger pfändete selber den säumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde die Familien- und die Blutrache geübt, der Rechtsstreit der Ritter und Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffent- lichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein be- liebtes Beweismittel, und selbst der Urtheilsschelte wurde durch die Be- rufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte die friedlichere und zuverlässigere Gerichtshülfe die ältere Selbsthülfe. Es ist daher nicht unnatürlich, wenn die Staten, d. h. die derzeitigen alleinigen Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsstreiten im Gefühl ihrer Selbständigkeit und ihrer Rechtsmacht sich noch heute vor- nehmlich selber zu helfen suchen.
Indessen der Krieg ist doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechts- mittel. Es giebt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte An- erkennung und Schutz zu verschaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen, unter Umständen die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienste befreundeter Staten, die Aeußerungen des diplomatischen Körpers, die Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Coalitionen gegen den Friedensbrecher, die laute und starke Stimme der öffentlichen Meinung ge- währen der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen -- freilich nicht immer einen ausreichenden Schutz, und werden selten ungestraft mißachtet. Zu- weilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche den Streit der Staten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vor- gängigen Proceßverfahren entscheiden.
Einleitung.
und verwirrt ſie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt die Gunſt der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die Gegner zur Feindſchaft und weckt allgemeine Mißgunſt. Der Stärkſte ſelbſt, wenn er Sieger wird, fühlt ſich nach dem unübertrefflichen Aus- drucke Rouſſeau’s nicht ſtark genug ohne das Recht und wird ſeines Sieges erſt froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche An- erkennung des Rechts zu verſchaffen. Wenn der Sieg dauernde und in- ſofern nothwendige Wirkungen hervorbringt, ſo beſtimmt er wirklich die Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.
In der Jugendperiode der germaniſchen Völker und theilweiſe noch im Mittelalter war es mit dem Rechtsſchutze des Privat- und des Straf- rechts nicht viel beſſer beſtellt. Die männliche Selbſthülfe war auch da eine gewöhnliche Form der Rechtshülfe. Mit den Waffen in der Hand vertheidigte der Eigenthümer den Frieden ſeines Hauſes, der Gläubiger pfändete ſelber den ſäumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde die Familien- und die Blutrache geübt, der Rechtsſtreit der Ritter und Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffent- lichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein be- liebtes Beweismittel, und ſelbſt der Urtheilsſchelte wurde durch die Be- rufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte die friedlichere und zuverläſſigere Gerichtshülfe die ältere Selbſthülfe. Es iſt daher nicht unnatürlich, wenn die Staten, d. h. die derzeitigen alleinigen Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsſtreiten im Gefühl ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Rechtsmacht ſich noch heute vor- nehmlich ſelber zu helfen ſuchen.
Indeſſen der Krieg iſt doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechts- mittel. Es giebt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte An- erkennung und Schutz zu verſchaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen, unter Umſtänden die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienſte befreundeter Staten, die Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers, die Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Coalitionen gegen den Friedensbrecher, die laute und ſtarke Stimme der öffentlichen Meinung ge- währen der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen — freilich nicht immer einen ausreichenden Schutz, und werden ſelten ungeſtraft mißachtet. Zu- weilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche den Streit der Staten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vor- gängigen Proceßverfahren entſcheiden.
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Einleitung.
und verwirrt ſie. Das offenbare Recht zieht Freunde herbei und gewinnt
die Gunſt der öffentlichen Meinung; das augenfällige Unrecht reizt die
Gegner zur Feindſchaft und weckt allgemeine Mißgunſt. Der Stärkſte
ſelbſt, wenn er Sieger wird, fühlt ſich nach dem unübertrefflichen Aus-
drucke Rouſſeau’s nicht ſtark genug ohne das Recht und wird ſeines Sieges
erſt froh, wenn es ihm glückt, dem Erfolge der Waffen die endliche An-
erkennung des Rechts zu verſchaffen. Wenn der Sieg dauernde und in-
ſofern nothwendige Wirkungen hervorbringt, ſo beſtimmt er wirklich die
Rechtsordnung für die Gegenwart und ihre Folge.
In der Jugendperiode der germaniſchen Völker und theilweiſe noch
im Mittelalter war es mit dem Rechtsſchutze des Privat- und des Straf-
rechts nicht viel beſſer beſtellt. Die männliche Selbſthülfe war auch da
eine gewöhnliche Form der Rechtshülfe. Mit den Waffen in der Hand
vertheidigte der Eigenthümer den Frieden ſeines Hauſes, der Gläubiger
pfändete ſelber den ſäumigen Schuldner, gegen die Friedensbrecher wurde
die Familien- und die Blutrache geübt, der Rechtsſtreit der Ritter und
Städte wurde in der Form der Fehde vollzogen. Sogar in die öffent-
lichen Gerichte hinein trat die Waffengewalt, der Zweikampf war ein be-
liebtes Beweismittel, und ſelbſt der Urtheilsſchelte wurde durch die Be-
rufung auf die Schwerter Nachdruck verliehen. Nur allmählig verdrängte
die friedlichere und zuverläſſigere Gerichtshülfe die ältere Selbſthülfe. Es
iſt daher nicht unnatürlich, wenn die Staten, d. h. die derzeitigen alleinigen
Inhaber, Träger und Garanten des Völkerrechts, in ihren Rechtsſtreiten
im Gefühl ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Rechtsmacht ſich noch heute vor-
nehmlich ſelber zu helfen ſuchen.
Indeſſen der Krieg iſt doch nicht das einzige völkerrechtliche Rechts-
mittel. Es giebt daneben auch friedliche Mittel, dem Völkerrechte An-
erkennung und Schutz zu verſchaffen. Die Erinnerungen und Mahnungen,
unter Umſtänden die Forderungen der neutralen Mächte, die guten Dienſte
befreundeter Staten, die Aeußerungen des diplomatiſchen Körpers, die
Drohungen der Großmächte, die Gefahren von Coalitionen gegen den
Friedensbrecher, die laute und ſtarke Stimme der öffentlichen Meinung ge-
währen der völkerrechtlichen Ordnung auch einigen — freilich nicht immer
einen ausreichenden Schutz, und werden ſelten ungeſtraft mißachtet. Zu-
weilen endlich werden völkerrechtliche Schiedsgerichte gebildet, welche
den Streit der Staten auch in wirklicher Rechtsform nach einem vor-
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/30>, abgerufen am 16.07.2024.
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