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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
darzustellen. Wenn diese Darstellung dem heutigen Rechtsbewußtsein der
civilisirten Welt entspricht, und zur Klärung und Aussprache desselben
dienlich ist, so ist der Zweck dieser Arbeit erfüllt; wenn nicht, so wünsche
ich nur, daß es in Bälde Andern besser gelingen möge, dieses berechtigte
Bedürfniß zu befriedigen.

2. Völkerrechtliche Rechtspflege.

Fast noch schlimmer als der Mangel eines Völkergesetzes ist der
Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigenthümer einer
Sache von dem Besitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem
Schuldner Zahlung fordert, so finden die beiden streitenden Parteien einen
Richter im State, welcher ihren Streit rechtskräftig entscheidet. Wenn
ferner Jemand bestohlen oder mißhandelt wird, so schreitet der Stats-
anwalt ein, die Geschwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter
bestimmt die Strafe, welche von der Statsgewalt vollzogen wird. Aber
wenn ein Stat Ansprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Stat
besetzt hält, wenn ein Stat Entschädigung fordert für rechtswidrige Ver-
letzung seiner Interessen durch einen andern Stat, wenn ein Stat einen
schweren Friedens- und Rechtsbruch begeht wider einen andern Stat, so
giebt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger sich wenden kann,
welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verschafft und auch
den Schwachen wider den Mächtigen schützt. Das letzte und in manchen
Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Stat bleibt, um sein
Recht zu behaupten, ist der Krieg und im Kriege entscheidet die Gewalt
der auf einander stoßenden Naturkräfte. Im Kriege siegt leichter die
Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für sich hat.

Unläugbar ist daher der Krieg eine rohe und unsichere Form des
Rechtsschutzes. Wir können nicht mit Zuversicht darauf rechnen, daß
die Macht sich dahin wende, wo das Recht ist und der besser Berechtigte
in Folge dessen auch der Stärkere sei. Aber selbst in dieser leidenschaft-
lichen und rohen Form der gewaltsamen Selbsthülfe macht sich doch
das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die
Staten zu den Waffen und unternehmen es, indem sie alle ihre Mannes-
kraft anspannen und das Leben der Bürger einsetzen, ihrer Rechtsbehauptung
den Sieg zu verschaffen. Niemals ist es auch gleichgültig, auf welcher
Seite das Recht sei. Der Glaube an das eigene gute Recht stärkt und
ermuthigt die Kämpfenden, das Bewußtsein des eigenen Unrechts ängstigt

Einleitung.
darzuſtellen. Wenn dieſe Darſtellung dem heutigen Rechtsbewußtſein der
civiliſirten Welt entſpricht, und zur Klärung und Ausſprache deſſelben
dienlich iſt, ſo iſt der Zweck dieſer Arbeit erfüllt; wenn nicht, ſo wünſche
ich nur, daß es in Bälde Andern beſſer gelingen möge, dieſes berechtigte
Bedürfniß zu befriedigen.

2. Völkerrechtliche Rechtspflege.

Faſt noch ſchlimmer als der Mangel eines Völkergeſetzes iſt der
Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigenthümer einer
Sache von dem Beſitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem
Schuldner Zahlung fordert, ſo finden die beiden ſtreitenden Parteien einen
Richter im State, welcher ihren Streit rechtskräftig entſcheidet. Wenn
ferner Jemand beſtohlen oder mißhandelt wird, ſo ſchreitet der Stats-
anwalt ein, die Geſchwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter
beſtimmt die Strafe, welche von der Statsgewalt vollzogen wird. Aber
wenn ein Stat Anſprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Stat
beſetzt hält, wenn ein Stat Entſchädigung fordert für rechtswidrige Ver-
letzung ſeiner Intereſſen durch einen andern Stat, wenn ein Stat einen
ſchweren Friedens- und Rechtsbruch begeht wider einen andern Stat, ſo
giebt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger ſich wenden kann,
welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verſchafft und auch
den Schwachen wider den Mächtigen ſchützt. Das letzte und in manchen
Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Stat bleibt, um ſein
Recht zu behaupten, iſt der Krieg und im Kriege entſcheidet die Gewalt
der auf einander ſtoßenden Naturkräfte. Im Kriege ſiegt leichter die
Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für ſich hat.

Unläugbar iſt daher der Krieg eine rohe und unſichere Form des
Rechtsſchutzes. Wir können nicht mit Zuverſicht darauf rechnen, daß
die Macht ſich dahin wende, wo das Recht iſt und der beſſer Berechtigte
in Folge deſſen auch der Stärkere ſei. Aber ſelbſt in dieſer leidenſchaft-
lichen und rohen Form der gewaltſamen Selbſthülfe macht ſich doch
das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die
Staten zu den Waffen und unternehmen es, indem ſie alle ihre Mannes-
kraft anſpannen und das Leben der Bürger einſetzen, ihrer Rechtsbehauptung
den Sieg zu verſchaffen. Niemals iſt es auch gleichgültig, auf welcher
Seite das Recht ſei. Der Glaube an das eigene gute Recht ſtärkt und
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[7/0029] Einleitung. darzuſtellen. Wenn dieſe Darſtellung dem heutigen Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt entſpricht, und zur Klärung und Ausſprache deſſelben dienlich iſt, ſo iſt der Zweck dieſer Arbeit erfüllt; wenn nicht, ſo wünſche ich nur, daß es in Bälde Andern beſſer gelingen möge, dieſes berechtigte Bedürfniß zu befriedigen. 2. Völkerrechtliche Rechtspflege. Faſt noch ſchlimmer als der Mangel eines Völkergeſetzes iſt der Mangel eines Völkergerichts. Wenn der vermeintliche Eigenthümer einer Sache von dem Beſitzer Herausgabe verlangt, oder der Gläubiger von dem Schuldner Zahlung fordert, ſo finden die beiden ſtreitenden Parteien einen Richter im State, welcher ihren Streit rechtskräftig entſcheidet. Wenn ferner Jemand beſtohlen oder mißhandelt wird, ſo ſchreitet der Stats- anwalt ein, die Geſchwornen erkennen über die Schuld, der Strafrichter beſtimmt die Strafe, welche von der Statsgewalt vollzogen wird. Aber wenn ein Stat Anſprüche auf einen Bezirk erhebt, den ein anderer Stat beſetzt hält, wenn ein Stat Entſchädigung fordert für rechtswidrige Ver- letzung ſeiner Intereſſen durch einen andern Stat, wenn ein Stat einen ſchweren Friedens- und Rechtsbruch begeht wider einen andern Stat, ſo giebt es keinen Gerichtshof, an welchen der Kläger ſich wenden kann, welcher dem Unrecht wehrt, dem Rechte Anerkennung verſchafft und auch den Schwachen wider den Mächtigen ſchützt. Das letzte und in manchen Fällen das einzige Mittel, welches dem verletzten Stat bleibt, um ſein Recht zu behaupten, iſt der Krieg und im Kriege entſcheidet die Gewalt der auf einander ſtoßenden Naturkräfte. Im Kriege ſiegt leichter die Partei, welche die Macht, als die, welche das Recht für ſich hat. Unläugbar iſt daher der Krieg eine rohe und unſichere Form des Rechtsſchutzes. Wir können nicht mit Zuverſicht darauf rechnen, daß die Macht ſich dahin wende, wo das Recht iſt und der beſſer Berechtigte in Folge deſſen auch der Stärkere ſei. Aber ſelbſt in dieſer leidenſchaft- lichen und rohen Form der gewaltſamen Selbſthülfe macht ſich doch das Rechtsgefühl der Völker geltend. Eben für ihr Recht greifen die Staten zu den Waffen und unternehmen es, indem ſie alle ihre Mannes- kraft anſpannen und das Leben der Bürger einſetzen, ihrer Rechtsbehauptung den Sieg zu verſchaffen. Niemals iſt es auch gleichgültig, auf welcher Seite das Recht ſei. Der Glaube an das eigene gute Recht ſtärkt und ermuthigt die Kämpfenden, das Bewußtſein des eigenen Unrechts ängſtigt

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/29>, abgerufen am 23.11.2024.